Aufzeichnungen einer 59-jährigen Telefonberaterin der Dargebotenen Hand, Dienststelle Bern:
«Ich bin seit gut fünf Jahren bei der Dargebotenen Hand tätig und arbeite zu einem Pensum von 40 bis 50 Prozent. Zuvor arbeitete ich als Heimleiterin für schwer erziehbare Jugendliche, habe Lehrkräfte ausgebildet und als Kindergärtnerin gearbeitet – meinem ursprünglich erlernten Beruf.
Für mich ist es ein Privileg, diese Arbeit zu machen. Ich habe keine Kinder und kann meine Kraft in etwas anderes stecken. Mein Mann und ich sind ausserdem finanziell abgesichert und können uns um unsere Herzensprojekte kümmern.
Die Arbeit bei der Dargebotenen Hand passt einfach perfekt zu mir: Ich bin gesund, stehe stabil im Leben, kann gut Krisen von anderen Menschen aushalten und mich interessieren gesellschaftliche und soziale Fragen sehr. Ausserdem bin ich sehr geduldig und tolerant, ich bin das Gegenteil einer Moralistin.
Auf der Dienststelle Bern arbeiten rund 60 Mitarbeitende, teils sind die Dienste doppelt besetzt. Der Arbeitsort ist wie eine grosse Wohnung, ein sehr schöner Ort, darüber bin ich froh. Ich schätze den Arbeitsweg, den ich zur Vorbereitung nutze, und wenn ich nach einer Schicht die Klinke einer Kollegin in die Hand gebe, bleiben die Themen, die wir besprochen haben, dort.
Monatlich leiste ich zwischen vier bis acht Diensten. Ein Dienst dauert zwischen fünf bis zehn Stunden. Um hier arbeiten zu können, muss man mindestens 30 Prozent für unentgeltliche Arbeit einsetzen können. Gerne helfen wollen reicht bei weitem nicht. Es geht auch sehr ums Aushalten.
An der Arbeit gefällt mir besonders die Vielseitigkeit der Themen. So geht es etwa um Einsamkeit, Probleme in der Partnerschaft, psychische Belastungen, familiäre Differenzen, Krieg, Sexualität, den Verlust einer Partnerschaft, Tod, Streit mit Nachbarn, philosophische Gedanken, Drogen, Alkohol oder eine begangene Straftat. Unsere Anonymität und jene der Anrufenden ist das Erfolgsrezept der Dargebotenen Hand. Häufig hilft es den Leuten, dass sie ein Thema einfach loswerden konnten. Wir sind keine Psychologen und keine Richter, wir sind Zuhörerinnen, schauen, wo die Ressourcen sind, welche Schrittchen möglich wären.
Besonders gross ist das Thema Einsamkeit, und zwar betrifft es junge genauso wie ältere Menschen. Auch psychische Krankheiten sind sicher ein grosses Thema, bei jüngeren Menschen auch Suizidgedanken. Schön finde ich: Viele Leute sagen, sie würden gern im Hier und Jetzt leben. Die Arbeit, die wir bei Telefon 143 machen, zwingt uns, genau darauf zu fokussieren. Die Intimität, die entsteht, das Vertrauen, das einem entgegengebracht wird, erfüllt mich extrem. Ich finde es auch wunderbar, im Team aufgehoben zu sein. Stellen Sie sich vor, der Betrieb läuft seit 60 Jahren, das Telefon wurde nur einmal während eines Umzugs für 20 Minuten unterbrochen, ansonsten ist es während 24 Stunden besetzt!
Die Anonymität ist aber auch belastend. Ich bin ein sehr kommunikativer Mensch. Dass ich die Erfahrungen vom Arbeitsplatz mit meinem Umfeld nicht teilen kann, ist schwierig. Ich führe eine Art Doppelleben. Wenn meine Nachbarin wüsste, dass ich da arbeite, wäre sie vielleicht gehemmt, Hilfe anzunehmen. Diskretion ist das A und O.
Besonders in Erinnerung bleiben mir Gespräche, in denen eine tiefe Verbundenheit entsteht. Das Gefühl, dass sich jemand gut aufgehoben fühlt, oder Momente, in denen man zusammen lachen kann. Wir begleiten die Leute, teils über Monate. Schön sind Rückmeldungen von kleinen Fortschritten: Plötzlich hat sich jemand einen Anwalt genommen, sich beim Psychiater angemeldet, ist ausgezogen.
In Erinnerung bleibt mir auch ein Abend während der Weihnachtszeit, an dem ich einen Suizid verhindern konnte. Während des Gesprächs kam irgendwann aus, dass die Person ein Säckchen mit Tabletten schon parat hatte, die sie schlucken wollte. Sie befand sich auf einem Parkplatz an einem See. Sie hat sich dann sehr gut und gern «bei der Hand nehmen» lassen. Ich sagte: «Steigen Sie aus dem Auto, drücken Sie alle Tabletten aus der Packung, werfen sie alle weg.» Jeden weiteren Schritt machten wir zusammen, bis die Person wieder zu Hause war, sich in die Badewanne und ins Bett legen konnte. In solchen Momenten muss man selber in den Krisenmodus schalten, die Führung übernehmen, ruhig atmen.
Man weiss aus der Forschung, dass Leute, die sich in einem Tunnelmoment befinden, nicht mehr klar denken können. Und dass über 90 Prozent jener, die einen Suizidversuch unternehmen wollten, im Nachhinein sehr dankbar dafür sind, dass man sie davon abgehalten hat.
Beim Verarbeiten von schwierigen Gesprächen kann ich jederzeit Kontakt mit meinen Vorgesetzten oder Mitarbeitenden aufnehmen, das hilft. Ich habe zum Glück viel Raum, um das Gehörte zu verarbeiten. Auch haben wir immer wieder Weiterbildungen.
Die Arbeit bei der Dargebotenen Hand ist für mich eine überaus sinnvolle und nötige Arbeit. Wir tragen als Gesamtgesellschaft die Verantwortung für jene, denen es schlechter geht. Ich fühle mich verpflichtet, einen Beitrag zu leisten.»
Zahlen und Fakten
Daniela Humbel, Verantwortliche Kommunikation/ Fundraising der Dargebotenen Hand in Bern, gibt Auskunft:
Wie viele Anrufe erhalten Sie pro Tag?
Daniela Humbel:
Bei unserer Regionalstelle in Bern erhalten wir täglich durchschnittlich 75 Anrufe. Es können aber an Spitzentagen auch mal zu bis zu 110 Anrufen kommen. Nicht aus jedem Anruf entsteht ein Gespräch. Manchmal hängen die Personen wieder auf, es gibt Schweige- und Juxanrufe oder auch Fehlanrufe. Daher unterscheiden wir zwischen Anrufen und Gesprächen. Schweizweit waren es im vergangenen Jahr insgesamt rund 265’000 Anrufe, daraus ergaben sich 190’000 Gespräche.
Gibt es Spitzenzeiten, in denen sich die Anrufe häufen, etwa vor Weihnachten?
Wenn die Tage wieder kürzer werden, im grauen November, merken wir oft eine Zunahme an Gesprächen. Aber auch im Sommer kann das Gesprächsbedürfnis gross sein, wenn draussen das Leben spielt und die Menschen sich treffen, draussen verweilen und die Einsamkeit für gewisse Menschen noch deutlicher spürbar ist.
Wie lange dauert ein Gespräch durchschnittlich?
Ein Gespräch dauert durchschnittlich 16 Minuten.
Seit wann gibt es das Angebot, per E-Mail oder Chat mit Beraterinnen/Beratern in Kontakt zu treten, und welches Angebot wird am häufigsten genutzt?
Das Online-Angebot wurde 2002 eingeführt. Bei uns in Bern kann man seit 2010 Chatten. Klar am häufigsten wird vom Telefonangebot Gebrauch gemacht. Rund 92 Prozent der Kontaktaufnahmen erfolgen via Telefon. Wobei dies auch mit den Kapazitäten zu tun hat. Das Telefon wird rund um die Uhr bedient, der Chat von 10 bis 22 Uhr, und es arbeiten weniger Freiwillige im Onlinedienst.
Wie alt sind die Freiwilligen im Durchschnitt, und wie lange arbeiten sie für die Dargebotene Hand?
Bei uns in Bern liegt das Durchschnittsalter bei 63 Jahren, und die freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bleiben durchschnittlich sieben Jahre bei uns. Im letzten Jahr hatten wir sogar drei Jubilarinnen, die auf 20 Jahre bei Telefon 143 zurückblicken konnten. Da die Arbeit bei uns eine gewisse Flexibilität und Zeit voraussetzt, sind die meisten unserer Freiwilligen bereits pensioniert. Diese leisten neben Tagesdiensten auch Nachtschichten, Wochenenddienste und erhalten Weiterbildungen und Supervisionen.
Sind es mehr Männer oder Frauen, die bei der Dargebotenen Hand Freiwilligenarbeit leisten?
Es sind mehr Frauen als Männer. Von den schweizweit 696 Freiwilligen ist nur gerade ein Drittel männlich (Stand 2022).
Welche Art von Ausbildung erhalten die Freiwilligen?
Sie erhalten eine anspruchsvolle Ausbildung, in der interne, wie auch externe Fachreferenten/Ausbilder involviert sind. Thematisiert werden darin etwa Gesprächsführung, psychische Gesundheit und Krankheiten, Sucht, Umgang mit Suizidalität, Trauma, Opferhilfe, häusliche Gewalt, Sterben, Tod und Trauer. Dazu machen sie in den neun Monaten insgesamt zwölf Praktika mit unseren erfahrenen, geschulten Freiwilligen und absolvieren drei Praktikums-Auswertungsnachmittage.
Wissen Sie, wie stark die Dargebotene Hand im Vergleich zu anderen niederschwelligen Hilfsangeboten genutzt wird?
Einen Vergleich mit anderen Organisationen habe ich nicht. Unsere Zahlen zeigen jedoch, wie wichtig unser Angebot, vor allem auch ausserhalb der Bürozeiten, ist. Rund ein Viertel aller Gespräche erfolgen nachts. Die Anonymität der Anrufenden und der Freiwilligen tragen zudem dazu bei, dass bei uns über alles gesprochen wird, auch über Tabuthemen.
Wie finanziert sich die Dargebotene Hand, bzw. wofür brauchen Sie Spenden und Legate?
Die Dargebotene Hand ist eine politisch und konfessionell unabhängige und neutrale, ZEWO-zertifizierte Non-Profit-Organisation, die sich zu sechs Prozent aus Eigenleistungen, zu 31 Prozent aus institutionellen Beiträgen und zu 63 Prozent aus Spenden finanziert. Alle Regionalstellen haben eine autonome Finanzierung und Tel 143 ist kein auf Bundesebene staatlich finanziertes Angebot. Die Spenden fliessen in die Aus- und Weiterbildung der Freiwilligen, die Supervision der Freiwilligen und auch in die Kommunikation. Wir brauchen Spenden und Legate, damit wir unser Angebot Tag für Tag in bester Qualität ausführen und beibehalten können.