In kurzer Zeit wurden Kinder und Jugendliche mit zahlreichen Krisen konfrontiert. Diese treffen Kinder und Jugendliche in einer besonders verletzlichen Lebensphase und lösen Ängste aus. Kinder und Jugendliche durchlaufen psychologische, biologische und soziale Veränderungen. Ein prägendes Alter mit prägenden Erlebnissen: «Die Jugendzeit ist ein wichtiges Alter mit vielen Baustellen und wegweisenden Ereignissen. Den Abschlussball beispielsweise kann man nicht nachholen», so Anastassiya Korf, die seit 17 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe arbeitet. Seit zwei Jahren leitet die Sozialarbeiterin die Beratungsdienstleistungen der Deutschschweiz bei Pro Juventute. «Viele psychische Probleme werden als Pubertätserfahrungen abgetan – doch die Probleme verschwinden nach der Adoleszenz nicht einfach und kommen später im Erwachsenenalter wieder hoch. Man darf Kinder und Jugendliche nicht im Regen stehenlassen», so Anastassiya Korf.
40 Prozent mehr Beratungsaufwand
Jährlich nutzen über 300’000 Kinder und Jugendliche sowie rund 140’000 Eltern und Bezugspersonen in der ganzen Schweiz die Angebote von Pro Juventute. Pro Juventute hat die Vision, jedem Kind in der Schweiz eine erfüllte Kindheit und ein selbstbestimmtes, verantwortungsbewusstes Aufwachsen zu ermöglichen. Pro Juventute ist als Stiftung grösstenteils durch private Spenden finanziert. «Wir setzen die Spendengelder für Projekte ein, die unserer Vision folgen. Wir möchten insbesondere die gesunde psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stärken, indem wir für sie mit unseren Beratungsangeboten rund um die Uhr ein offenes Ohr haben», sagt die Sozialarbeiterin Korf.
Seit dem Beginn der Pandemie im Jahr 2019 ist der Beratungsaufwand von Pro Juventute um 40 Prozent gestiegen. Auf die Herausforderungen habe man rasch reagiert, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, so die Leiterin Beratung Deutschschweiz: Die Prozesse digitalisiert und während Spitzenzeiten zusätzliche Arbeitsschichten eingeführt. Die stark gestiegene Nachfrage bei den Beratungsangeboten erfordere mehr Unterstützung, denn die Beratungsangebote müssen ausgebaut und den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen angepasst werden. Damit die Angebote digital erreichbar sind, sind weitere Investitionen erforderlich.
Spendengelder für psychische Gesundheit und Medienkompetenz
«Die Unterstützung durch Vermächtnisse und Erbschaften ist für unsere Organisation sehr wichtig. Dank des Engagements unserer Erblasser:innen kann Pro Juventute jedes Jahr Kinder, Jugendliche und deren Eltern unterstützen und so direkt und wirkungsvoll mit einer Vielzahl von Angeboten und Dienstleistungen helfen», sagt Korf. Weihnachten, Ostern oder Silvester: Mit der Notrufnummer 147 bietet die Stiftung Pro Juventute rund um die Uhr vertrauliche Beratung und ein offenes Ohr. Ein professionelles Beratungsangebot an 365 Tagen im Jahr aufrechtzuhalten, sei sehr kostspielig. Neben der Notrufnummer 147 bietet Pro Juventute Elternberatung, Jugendleiterberatung für Mitarbeitende in Vereinen und im Freizeitbereich sowie seit Sommer 2022 Beratung für geflüchtete Menschen aus der Ukraine an.
Pro Juventute setzt Spendengelder auch zur Sensibilisierung, Prävention und Befähigung im Umgang mit Social Media und digitalen Medien ein. Die Medienkompetenz ist in der heutigen Welt eine Schlüsselkompetenz, um durch die Nachrichtenwelt zu navigieren: Was sind Fakten, was sind Fake News? Viele Kinder und Jugendliche verbringen mehrere Stunden pro Tag in den sozialen und digitalen Medien. Umso wichtiger, dass sie für einen gesunden Medienkonsum sensibilisiert sind.
Zuhören, bestärken und beruhigen
Niederschwellig beraten und nicht warten, bis es brennt: Das Beratungsangebot von Pro Juventute für Kinder und Jugendliche soll präventiv wirken. Seit 1999 unterstützen ausgebildete Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen unter der Nummer 147 Kinder und Jugendliche. Weitere Kanäle ergänzen die vertrauliche Beratung: Via Chat, E-Mail oder SMS können sich Betroffene auch schriftlich mit den Fachpersonen austauschen. Diese Kanäle sind niederschwelliger als der persönlichere Kontakt am Telefon. Zusätzlich bietet Pro Juventute auch sogenannte Peer-Beratungen an, bei der sich Jugendliche mit Gleichaltrigen über ihre Sorgen und Probleme austauschen. Oft getrauten sich die Betroffenen zuerst nicht, etwas überhaupt auszusprechen, so Anastassiya Korf. Zuhören, bestärken und beruhigen sei das A und O in der Beratung. Pro Juventute leitet bei einem schwerwiegenden Vorfall auch weitere Schritte ein und stellt zum Beispiel den Kontakt zur Opferhilfe her.
Angststörungen stark zugenommen
Je unsicherer die Umwelt, desto unsicherer werden die Jugendlichen: Die Angststörungen haben in den Beratungen von Pro Juventute seit dem Beginn der Pandemie stark zugenommen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben sich diese noch mal verstärkt. «Der Krieg ist hier in der Schweiz zwar nicht unmittelbar spürbar, doch die Kinder und Jugendlichen sehen die Bilder in den sozialen Medien und spüren die Unsicherheiten in ihrem Umfeld», beschreibt Korf die Situation. Neben Beratungen zum Thema «Angst», die seit Anfang 2022 um rund 30 Prozent zugenommen haben, leiden auch mehr Kinder und Jugendliche unter depressiven Verstimmungen und Depressionen oder haben Suizidgedanken. Bei Suizidabsichten leitet die Stiftung Kriseninterventionen ein und bietet Blaulichtorganisationen auf – die Anzahl der Kriseninterventionen hat sich im Vergleich zu 2019 verdoppelt. «Wenn wir nur einem Kind das Leben retten, hat sich unsere Arbeit gelohnt», so Anastassiya Korf. Sie und ihr Team mit 21 Mitarbeitenden haben im Schnitt täglich Kontakt mit sieben Jugendlichen, die über Suizid reden.
Ukraine-Beratung für geflüchtete Menschen
Im Sommer 2022 hat Pro Juventute für geflüchtete Menschen aus der Ukraine ein psychosoziales Unterstützungsangebot aufgebaut. Zwei Psychologinnen, die Ukrainisch und Russisch sprechen, beraten Kinder, Jugendliche und ihre Bezugspersonen via Telegram, WhatsApp oder Telefon. Oft wenden sich Mütter von geflüchteten Kindern an Pro Juventute, weil sie festgestellt haben, dass sich ihre Kinder zurückziehen oder unter Schlaf- oder Essstörungen leiden. Kinder und Jugendliche aus der Ukraine melden sich zudem selbst bei der Hotline, wenn sie zum Beispiel Schwierigkeiten in der Schule haben. Und sie berichten von ihren Fluchterfahrungen: Von Panzern, Raketeneinschlägen und dem ständigen Alarm, den sie teilweise jetzt noch hören. Die Kinder und Jugendlichen machen sich Sorgen um ihre Väter und Verwandten in der Ukraine. Bei Stromausfällen bricht der Kontakt zur Familie und zu Freunden in ihrer Heimat ganz ab. «Ein Jugendlicher erzählte uns, dass er sich schlecht fühle, weil er nun hier in der Schweiz in Sicherheit lebt und sein Vater an der Front ist. Manchmal sind wir von Pro Juventute die Einzigen, denen sich die Schutzsuchenden mit ihren Ängsten und Sorgen anvertrauen können», sagt Anastassiya Korf. Über Erlebtes und Erlittenes zu reden helfe, die Erfahrungen und Gefühle einzuordnen und schaffe Erleichterung. Das gilt für alle Kinder und Jugendlichen, die sich an Pro Juventute wenden.