Welche Funktion kommt dem schweizerischen Erbrecht zu?
75% aller Schweizerinnen und Schweizer hinterlassen bei ihrem Tod kein Testament. In diesem Fall greift die gesetzliche Erbfolge. Diese legt fest, welchen Angehörigen welcher Anteil an der Erbschaft zukommt. Der gesetzlichen Erbfolge kommt damit in der Schweiz eine überragende Bedeutung zu. Darüber hinaus gibt es neben diesen freiwilligen Gesetzesartikeln, von denen Sie mittels Testament oder Erbvertrag abweichen können, auch zwingende Gesetzesartikel. Diese zwingenden Regeln müssen immer eingehalten werden, auch wenn der Erblasser in seiner letztwilligen Verfügung davon abgewichen ist. Die zwingenden Erbrechtsbestimmungen zielen darauf ab, eine gerechte und angemessene Behandlung der Erben sicherzustellen. Ein Beispiel dafür sind die Pflichtteile, die weiter unten genauer erläutert werden.
Von zentraler Bedeutung ist ferner die Frage, wer wie viel erbt, strikt von der Frage zu trennen, wer was erbt. Das Erbe ist zunächst ein vermögensrechtlicher Anspruch. Das bedeutet, dass ein Erbe oder eine Erbin in einem ersten Schritt ein Recht auf einen bestimmten Anteil des Nachlasses hat. Die Aufteilung der konkreten Wertgegenstände unter den Erben ist ein oft noch komplizierteres Unterfangen als die Ermittlung ihrer rein wertmässigen Beteiligung.
Sie wählen Ihre Erben selber aus – die gewillkürte Erbfolge
Im Erbrecht gibt es einige zwingende Regeln, die immer eingehalten werden müssen. Der Rest hat freiwilligen Charakter. Sie können also mittels letztwilliger Verfügung von diesen freiwilligen Regeln abweichen. Innerhalb der gesetzlichen Schranken kann also ein urteilsfähiger und volljähriger Erblasser selbst bestimmen, was mit seinem Vermögen im Sterbefall geschehen soll. Erfüllt die Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) die Vorgaben nicht, so ist sie in der Regel bis zur erfolgreichen Anfechtung durch Berechtigte am Gericht dennoch gültig.
Die Pflichtteile müssen Sie einhalten
In Bezug auf das den Hinterbliebenen zustehende Vermögen sind besonders die Pflichtteile von grosser Bedeutung. Diese bemessen sich in Anlehnung an die gesetzliche Erbfolge und stehen den Erben zu, soweit keine Enterbungsgründe vorliegen. Ein Pflichtteil von der Hälfte ihrer gesetzlichen Quote stehen den Nachkommen und dem Ehegatten / eingetragenen Partner des Erblassers zu. Andere Verwandte (zum Beispiel Eltern oder Geschwister des Erblassers) geniessen grundsätzlich keinen Pflichtteilsschutz.
Über welchen Teil kann ich unbegrenzt verfügen?
Das über die Pflichtteile hinausgehende Vermögen wird als frei verfügbare Quote bezeichnet und unterliegt allein dem Willen des Erblassers. Somit kann dieser einerseits Erben einsetzen, andererseits ausgewählten Personen ein Vermächtnis als Vermögensvorteil ausrichten. Vermächtnisnehmer sind keine Erben und als solche auch keinen Erbenpflichten unterworfen.
Weitere Vererbungsmöglichkeiten
Der Erblasser kann auch Eventualitäten berücksichtigen und so weiter vorausplanen: Mit einer Ersatzverfügung kann er Ersatzerben bestimmen, denen Vermögenswerte zufallen, sollten die ursprünglich Bedachten das Erbe nicht annehmen (können). Zudem kann er Nacherben einsetzen. Dabei verpflichtet der Erblasser einen Erben damit, die vererbten Güter zu einem festgelegten Zeitpunkt oder spätestens im Sterbefall des Nacherben einer Person weiterzugeben, den der ursprüngliche Erblasser zum Voraus bestimmt hat.
Mittels Erbvertrag (einer schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Erblasser und Dritten) kann die Vertragspartei sich einerseits verpflichten, jemandem ein Erbe oder Vermächtnis auszurichten (positiver Erbvertrag), andererseits kann sie vereinbaren, dass der Dritte auf ein allfälliges Erbe verzichtet (Erbauskauf, negativer Erbvertrag). Dieses Instrument kommt häufig beim Erbvorbezug zum Einsatz, beispielsweise wenn ein Nachkomme seinen Erbanteil zu Lebzeiten des Erblassers in Wohneigentum investieren möchte.
Vorausplanung kann das (Ver-)Erben erleichtern
Da Familienverhältnisse heutzutage sich zunehmend vom klassischen Modell entfernen, passt auch die gesetzliche Erbfolgeregelung immer weniger auf die persönliche Situation, Wünsche und Bedürfnisse vieler Betroffener. Um sicherzustellen, dass mit einer Erbschaft auch tatsächlich diejenigen Personen begünstigt werden, von denen Sie dies möchten, sollten Sie auch für unerwartete Fälle frühzeitig ein Testament aufsetzen. Angesichts der nicht immer übersichtlichen Regelungen, die auch oben nur im Grundsatz ausgeführt werden konnten, empfiehlt sich eine professionelle Beratung durch Juristen. So können Sie Konflikte mit zwingendem Gesetzesrecht und damit die Anfechtbarkeit Ihrer letztwilligen Verfügung vermeiden.
Was geschieht, wenn ich kein Testament aufsetze?
Dann tritt die Erbfolgeregelung des Gesetzgebers ein – die gesetzliche Erbfolge. Das Gesetz bezieht dabei ausschliesslich Ehegatten, eingetragene Partner und Partnerinnen sowie Blutsverwandte in den Kreis der Erben ein. Möchten Sie anderen Personen eine Erbschaft oder ein Vermächtnis ausrichten, müssen Sie diese Absicht in einem Testament explizit machen. Die Anteile, die den Hinterbliebenen zustehen, beurteilen sich nach der Familiensituation des Erblassers: Dazu unterteilt das Schweizerische Zivilgesetzbuch die blutsverwandten Erben nach elterlichen Stämmen (sogenannten Parentelen): Die erste Parentel und damit die nächsten Erben bilden die Kinder eines Erblassers, die zweite die Eltern und die dritte die Grosseltern. Sie setzen sich durch ihre Nachkommen in gerader Linie fort.
Die Parentelen wirken untereinander ausschliessend. Dies bedeutet, dass die zweite (dritte) Parentel erst dann eine Erbschaft antritt, wenn keine Erben der ersten (zweiten) in Betracht fallen. An die Stelle vorverstorbener Blutsverwandter treten deren Nachkommen in gleichmässiger Aufteilung. Sind keine Verwandten aus der dritten Parentel bekannt oder schlagen alle die Erbschaft aus, hört die Erbberechtigung auf und die Masse fällt an das Gemeinwesen des letzten Erblasserwohnsitzes gemäss kantonalem Recht.
Ein simples Beispiel zur Erbeteilung
Der Erblasser Alfred war verwitwet, hatte einen vorverstorbenen Sohn mit zwei Kindern und hinterlässt zudem eine Tochter. Da Nachkommen vorhanden sind, erbt deren Stamm und nicht der elterliche oder grosselterliche (also die Eltern, Grosseltern, Geschwister und Cousins von Alfred). Die Kinder erben jeweils zu gleichen Teilen: Die Tochter erhält 50 Prozent der Erbschaft, die Hälfte des vorverstorbenen Sohnes wird unter dessen Kindern (also den Enkeln von Alfred) abermals gleichmässig verteilt, sodass jedem Enkel 25 Prozent der Erbmasse zustehen.
Komplizierter gestaltet sich die Erbteilung, wenn der Verstorbene ausserdem einen Ehegatten oder eingetragenen Partner hinterlässt. Dann muss eine güterrechtliche Auseinandersetzung im Todeszeitpunkt vorgenommen werden, um überhaupt den Nachlass des Verstorbenen aussondern zu können. Hat man die Vermögensmassen ausgeschieden, hängt die Erbberechtigung des überlebenden Partners vom Verwandtschaftsgrad seiner Miterben ab: Mit (gemeinsamen) Kindern hat er hälftig zu teilen, Erben der zweiten (elterlichen) Parentel steht zusammen ein Viertel des Erblasservermögens zu. Weiter entfernte Verwandte (grosselterlicher Stamm, dritte Parentel) haben keinen Anspruch.
Ein weiteres Beispiel
Der kinderlose Erblasser Lukas hinterlässt seine Ehefrau und seine Mutter. Er hat zwei überlebende Brüder, und sein Vater ist vorverstorben. Nach der güterrechtlichen Auseinandersetzung teilt sich die ausgeschiedene Vermögensmasse von Lukas wie folgt auf: Weil keine Nachkommen existieren, ist der elterliche Stamm (zweite Parentel) zusammen mit der Ehefrau erbberechtigt. Der Ehefrau stehen in diesem Fall drei Viertel des Erbes zu. Mutter und Vater erben das übrige Viertel je zur Hälfte, sodass der Mutter ein Achtel gehört. Das Achtel des vorverstorbenen Vaters wird abermals unter den beiden Brüdern von Lukas aufgeteilt, sodass jeder ein Sechzehntel erhält.
Die gesetzliche Erbfolge stellt ein wichtiges und häufig in Anspruch genommenes Standardinstrument zur Klärung von Erbschaftsansprüchen dar, wenn der Erblasser oder die Erblasserin keinen Willen über sein/ihr Vermögen verfügt hat. Da sie aber in den wenigsten Fällen dem Erblasserwillen entspricht, sollte jeder seine Wünsche im Rahmen des gesetzlich Möglichen explizit machen. So können auch Konflikte über die Erbaufteilung besser vermieden werden.
Darüber könnten Sie sich Gedanken machen:
- Sind Sie mit der Erbfolgeregelung des Gesetzes einverstanden? Oder wollen Sie lieber davon abweichen, indem Sie Ihre Erbfolge selbst in einer letztwilligen Verfügung regeln?
- Wem wollen Sie Ihre frei verfügbare Quote vermachen? Macht es allenfalls Sinn, den Erbvertrag mit einem Ehevertrag zu kombinieren?
- Haben Sie bestimmte Vermögenswerte oder Gegenstände, für die Sie Nacherben einsetzen möchten?
- Sollten es die Verhältnisse erfordern, könnte auch das Einsetzen eines Ersatzerben Sinn machen.
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