Wer ist unter dem neuen Recht pflichtteilsgeschützt? Wie hoch sind die Pflichtteile?
Unter dem alten Recht betrugen die Pflichtteile der Nachkommen drei Viertel des gesetzlichen Erbanspruchs, seit dem Inkrafttreten des neuen Rechts nur noch die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs. Der Pflichtteil der Eltern entfällt gänzlich. Damit können Erblasser:innen zu Lebzeiten (z.B. mittels Schenkungen) oder auf den Tod (mittels Testament oder Erbvertrag) freier über ihr Vermögen verfügen – je nach den Nachlassplanungswünschen im konkreten Fall. Der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten verändert sich nicht. Dessen Pflichtteil beträgt nach wie vor die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs.
Beispiel
Ehegatten mit einem erwachsenen Kind möchten sich im Hinblick auf die Altersvorsorge gegenseitig erbrechtlich maximal begünstigen. Unter dem alten Recht betrug der Pflichtteil des Kindes drei Achtel (drei Viertel des hälftigen gesetzlichen Erbanspruchs). Unter dem neuen Recht beträgt der Pflichtteil des Kindes ein Viertel (die Hälfte des hälftigen gesetzlichen Erbanspruchs).
Dem überlebenden Ehegatten können damit unter dem neuen Recht drei Viertel des Nachlasses zugewiesen werden, statt fünf Achtel unter dem alten Recht (also neu 75% statt 62.5%).
Welche Neuerungen betreffen verheiratete Erblasser:innen mit gemeinsamen Nachkommen?
Die erste Neuerung betrifft Ehegatten, die einen Ehevertrag schliessen und sich darin im Todesfall ehegüterrechtlich begünstigen. Mit einem Ehevertrag können Ehegatten unter dem Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung für den Todesfall vereinbaren, dass nicht nur die gesetzlich vorgesehene Hälfte, sondern die ganze eheliche Errungenschaft dem länger lebenden Ehepartner zugewiesen wird. Der Nachlass besteht damit nach der ehegüterrechtlichen Auseinandersetzung nur noch aus dem erblasserischen Eigengut (in die Ehe eingebrachtes Vermögen oder während der Ehe geerbtes Vermögen). Auf die Teilung des erblasserischen Eigenguts (= Nachlass) kommen sodann die erbrechtlichen Regelungen zur Anwendung.
Solche ehevertraglichen Begünstigungen des überlebenden Ehegatten sind in der Praxis sehr häufig. Das neue Recht stellt nun klar, dass die übergesetzliche Errungenschaftszuweisung an den überlebenden Ehegatten bei der Berechnung der erbrechtlichen Pflichtteile der gemeinsamen Nachkommen nicht berücksichtigt wird. Dies war unter dem alten Recht umstritten. Die Pflichtteile der gemeinsamen Nachkommen berechnen sich somit nur vom Eigengut des verstorbenen Elternteils. Das neue Recht stärkt damit die Position des überlebenden Ehegatten zulasten der Pflichtteile der gemeinsamen Nachkommen.
Die zweite Neuerung gibt Ehegatten mit gemeinsamen Kindern mehr Gestaltungsspielraum, wenn sie sich für eine erbrechtliche Nutzniessungslösung entscheiden. Eine Erblasserin kann ihrem Ehemann letztwillig an der Hälfte des Nachlasses die Nutzniessung vermachen und ihm überdies an der anderen Hälfte des Nachlasses das volle Eigentum zuweisen (statt nur an einem Viertel unter dem alten Recht). Dies kann – je nach der konkreten Lebens- und Vermögenssituation – eine sehr weitgehende Begünstigung des überlebenden Ehemannes gegenüber den gemeinsamen Nachkommen ermöglichen.
Das Erbrecht zwischen Scheidungsgatten ändert sich. Worum geht es hier?
Früher galt, dass Ehegatten ihre gegenseitigen Erb- und Pflichtteilsansprüche erst dann verlieren, wenn sie rechtskräftig geschieden sind. Unter dem neuen Recht entfällt der Pflichtteilsschutz der Ehegatten bereits dann, wenn das Scheidungsverfahren eingeleitet wurde. In Scheidung befindliche Ehegatten können einander während der Scheidung also testamentarisch enterben. Zudem können Scheidungsgatten unter dem neuen Recht grundsätzlich keine sie begünstigenden Ansprüche aus einem Testament oder Erbvertrag geltend machen, wenn einer der Scheidungspartner während des Scheidungsverfahrens verstirbt.
Gilt das neue Erbrecht auch für bereits bestehende Nachlassplanungen?
Ja. Seit dem 1. Januar 2023 finden die neuen Bestimmungen des Erbrechts unmittelbar auf alle danach eintretenden Todesfälle Anwendung; es gilt das sog. Todestagsprinzip. Dieses Prinzip gilt grundsätzlich selbst dann, wenn die Erblasserin unter dem früher geltenden Recht ein Testament errichtet oder einen Erbvertrag geschlossen hat.
Beispiel
Die Erblasserin errichtete im Jahre 2016 ein Testament mit folgendem Inhalt: „Ich setze meine Tochter zugunsten meines Sohnes auf den Pflichtteil“. Die Erblasserin verstirbt im Jahre 2024. Wie ist ihr Testament zu verstehen?
Wollte die Erblasserin der Tochter leicht weniger (altes Recht: 3/8) geben als dem Sohn (altes Recht: 5/8), oder wollte sie der Tochter möglichst wenig (neues Recht: 1/4) und dem Sohn möglichst viel (neues Recht: 3/4) zuwenden? Die Tochter wird sich auf das Recht berufen, welches die Mutter beim Verfassen des Testaments vor Augen hatte, und drei Achtel des Nachlasses fordern. Der Sohn wird gestützt auf das neue Recht hingegen drei Viertel des Nachlasses beanspruchen.
Um solche Unklarheiten und damit einhergehende Konflikte zwischen den dereinstigen Erben zu vermeiden, sind bestehende Nachlassplanungen auf ihre Tragfähigkeit unter dem neuen Recht zu überprüfen – sei es, um die bestehenden Nachlassplanungsinstrumente an die neuen Gesetzesregeln anzupassen, oder sei es, um den erweiterten Gestaltungsspielraum unter dem revidierten Recht besser auszuschöpfen.
Was bedeutet das neue Erbrecht zusammengefasst für zukünftige Erblasser:innen?
Wichtig ist, dass das neue Recht die gesetzliche Erbfolge nicht ändert. Das neue Erbrecht bringt aber allen, die ihren Nachlass aktiv planen und sich nicht bloss auf die gesetzlichen Erbfolgeregeln abstützen wollen, mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum und damit einhergehend aber auch mehr Verantwortung.
Dieser Beitrag wurde verfasst durch: Louise Lutz Sciamanna, LL.M., Fachanwältin SAV Erbrecht bei CMS von Erlach Partners AG