Geschichte des Erbrechts – Spiegelbild der Schweizer Gesellschaft

Stetig ändert sich unsere Gesellschaft – unsere Werte, Umstände und Kultur. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Veränderungen auch im Gesetz niedergeschlagen. Was sind die wichtigsten Änderungen des Erbrechts? Wie ist das Erbrecht überhaupt entstanden, und hat es noch denselben Zweck? Im nachfolgenden Text finden Sie einen historischen Überblick.

Das Wichtigste in Kürze

  • Seit 1912 gilt in der Schweiz das ZGB (Schweizerisches Zivilgesetzbuch). Darin ist auch das Erbrecht geregelt.
  • Die erste grosse Revision des Erbrechts fand 1988 statt. Kernanliegen war es, die überlebende Ehegattin bzw. den überlebenden Ehegatten gegenüber den restlichen Erbenden zu begünstigen.
  • Erst im Januar 2023 trat die letzte Revision in Kraft. Insbesondere gewährte der Gesetzgeber dadurch mehr Entscheidungsfreiheit über den eigenen Nachlass.
  • Eine Erbschaft dient heute den meisten Menschen nicht mehr für die Sicherung ihrer Altersvorsorge. Im Zentrum steht das Individuelle, man darf freier entscheiden, was mit dem eigenem Vermögen nach dem Tod geschieht. Freunde, Vereine oder NGOs können begünstigt werden, nicht alles muss in der Familie bleiben.
  • Aktuell wird über die Erbschaftssteuer sowie eine weitere Reduktion der Pflichtteile diskutiert.

Wie ist das Erbrecht entstanden?

Im Jahr 1912 trat in der Schweiz das ZGB (Schweizerisches Zivilgesetzbuch) in Kraft. Darin finden sich Bestimmungen zum Privatrecht, unter anderem auch ein Abschnitt zum Erbrecht. Erstmals gilt seither somit schweizweit dasselbe Gesetz in erbrechtlichen Angelegenheiten. Zuvor galt in den meisten Kantonen deren eigenes Recht.

Während im 19. Jahrhundert primär die gesetzliche Erbfolge relevant war, nimmt im ZGB die Verfügung von Todes wegen (d.h. Testament, Erbvertrag) eine wichtige Rolle ein. Das ZGB führte zudem das öffentliche Inventar und die Ausgleichung ein. Es soll nach der Parentelordnung vererbt werden. Der Übergang der Erbschaft erfolgt automatisch mit dem Tod der verstorbenen Person. Im ZGB finden sich Elemente des römischen wie auch des germanischen Rechts. Die Grundpfeiler des schweizerischen Erbrechts, wie sie heute noch stehen, waren bereits in dieser ersten Fassung gelegt.

Dennoch unterscheidet sich die heutige ZGB-Version von der ersten deutlich. In der ersten Fassung sind beispielsweise, neben den Nachkommen und dem elterlichen Stamm, auch noch der grosselterliche Stamm als gesetzliche Erben aufgeführt. Was hatte dies zur Folge?

Beispiel: Ehegatte Erich verstarb im Jahre 1923. Seine Frau Elise und er hatten keine Kinder. Auch Erichs Eltern waren bereits vorverstorben. Jedoch lebte Erichs Grossvater noch, zu dem er jedoch keinerlei Kontakt pflegte. Nach damaligem Gesetz erbte Elise trotzdem nur die Hälfte des Nachlasses ihres Ehegatten, die andere Hälfte ging an den Grossvater.

Welchen Zweck hatte das Erbrecht früher?

Bis Ende des 19. Jahrhunderts diente das Erbrecht einem anderen Zweck als heute, da auch Familien eine andere Funktion hatten. Es gab bei der Verabschiedung des ZGB (1907) noch keine Altersvorsorge wie die AHV. Bedürftigen garantierte einzig die eigene Familie ihr Überleben. Deshalb musste das familiäre Eigentum so weitervererbt werden, damit die vom Erblasser abhängigen Personen ihren Lebensunterhalt weiterhin gesichert wussten.

Doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts begann der schweizerische Staat mit dem Aufbau sozialer Absicherungs- und Bildungssysteme. Die ökonomische Schutzfunktion ging grösstenteils von der Familie auf den Staat über. Im Falle von Krankheit oder Invalidität leisteten neu staatliche Sozialversicherungen Abhilfe. Gut zugängliche Bildungswege ermöglichten der jüngeren Generation ihre eigene Existenz aufzubauen. Die Abhängigkeit der Nachkommen vom Nachlass der Eltern ging zunehmend verloren.

Mit dem veränderten Stellenwert der Familie hat sich auch der Zweck des Erbrechts gewandelt. Früher schützte das schweizerische Erbrecht die Existenz der Familien, indem das Gesetz hohe Pflichtteile für die Nachkommen und Blutsverwandten vorschrieb. Denn das Vermögen sollte in der Familie bleiben. So waren kommende Generationen insbesondere im Alter abgesichert.

Heute steht viel mehr der individuelle Mensch im Zentrum des Erbrechts. Erblassende können zu einem grossen Teil frei entscheiden, ob Familienmitglieder erben oder lieber alte Freunde, Lebenspartnerinnen oder eine gemeinnützige Organisation. Möchten Sie wissen, was Sie mit einer Begünstigung an ein Hilfswerk in Ihrem Testament bewirken können? Hier finden Sie Infos zu unseren Partnerorganisationen und was Sie mit ihrem letzten Willen bewirken können.

Was bewirkte die grosse Revision 1988?

Ganze 76 Jahre lang hielt sich die Fassung von 1912. Bis zum Jahr 1988 gab es nur kleinere Anpassungen. Kinder aus Adoptionsverhältnis erhielten durch das Adoptionsrecht von 1971 Gleichstellung zu biologischen Nachkommen. Im Jahre 1976 entfiel auch die Unterscheidung von Nachkommen mit ehelicher und ausserehelicher Abstammung. Abgesehen von diesen kleineren Anpassungen blieb das Erbrecht von 1912 unverändert.

Erst 1984 verabschiedete das Parlament ein revidiertes ZGB, welches 1988 in Kraft trat. Zentrales Anliegen der Revision bildete die Besserstellung der überlebenden Ehegattin bzw. des überlebenden Ehegatten. Zu diesem Zweck verringerte das Parlament die Erbansprüche der restlichen Erben. Beispielsweise erfuhr der gesetzliche Erbteil des Ehegatten gegenüber den gemeinsamen Nachkommen eine Erhöhung von ¼ auf ½ des Nachlasses. Ebenfalls beschloss es den Wegfall sämtlicher Pflichtteilsansprüche von Geschwistern und Grosseltern. Hatten die Ehegatten vor 1988 noch die Wahl zwischen einem gesetzlichen Nutzniessungs- oder Eigentumsanspruch, gibt es danach nur noch den gesetzlichen Anspruch auf Eigentum.

Die Änderungen mit einem Beispiel veranschaulicht: Ehegatte Erich verstarb 1989. Seine Frau Judith erbte die Hälfte des Nachlasses, die andere erhielt ihr gemeinsamer Sohn Jan. Wäre Erich vor 1988 verstorben, hätte Judith nur ¼ des Nachlasses, Jan hingegen ¾ geerbt.

Welches sind die jüngsten Änderungen des Erbrechts?

Zwar stellte die Revision von 1988 einen wichtigen Schritt dar für das schweizerische Erbrecht, doch angesichts des gesellschaftlichen Wandels des 21. Jahrhunderts, konnten die bisherigen Anpassungen nicht genügen. Die Zunahme von Scheidungen und darauffolgende Zweitehen führten vermehrt zu «Patchwork-Familien». Auch die Zahlen langfristig unverheirateter Paare mit und ohne Kinder ging stetig in die Höhe. Mit wachsender Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Paaren und deren Familienkonstellationen besteht ein weiterer Faktor, für welchen das ZGB von 1988 keine Lösungen bot.

All diese neuen und diversen Lebensmodelle bedurften einer Lockerung des bestehenden Pflichtteilsrechts, und damit nach einer Ausweitung der freien Quote (auch verfügbare Quote genannt). Der Gesetzgeber wollte mehr Möglichkeiten zur Berücksichtigung allfälliger Stiefkinder sowie Lebenspartnerinnen und -partner geben.

Im Vorentwurf von 2015 schlug der Bundesrat unter anderem die Senkung der Pflichtteilsquoten vor. Nach zahlreichen Zwischenschritten stimmte das Parlament 2019 schliesslich einem angepassten Entwurf zu. Darin fehlte allerdings beispielsweise der ursprünglich vorgeschlagene Unterstützungsanspruch für faktische Lebenspartner und -partnerinnen. Dieser hätte, unter gewissen Voraussetzungen, eine Rente vorgesehen für Personen, die in einer faktischen Partnerschaft mit dem Erblasser bzw. der Erblasserin gelebt haben. Der Ständerat lehnte diesen Unterstützungsanspruch allerdings ab. Die letzte Erbrechtsrevision trat im Januar 2023 in Kraft.

Wohin steuert unser Erbrecht?

Heute nutzen Erbinnen und Erben den Nachlass kaum noch als Altersvorsorge. Erbende in der Schweiz werden immer älter; eine Mehrheit der Bevölkerung erbt erst nach dem 55. Altersjahr. Zu diesem Zeitpunkt haben die meisten Rentnerinnen und Rentner die Planung ihrer individuellen Altersvorsorge bereits abgeschlossen.

Gleichzeitig steigt die Erbmasse in der Schweiz rasch. Während das gesamte schweizerische Erbschaftsvolumen im Jahre 1990 noch ca. Fr. 20 Milliarden betrug, ergaben Schätzungen für 2022 eine Summe von 88 Milliarden Schweizer Franken, welche vererbt wurden.

Doch was bedeuten diese Entwicklungen für unser Erbrecht? Da Erbschaften heute nicht mehr alleinig existenzsichernd sind, räumt der Gesetzgeber den Erblassern und Erblasserinnen mehr Spielraum ein. Über die Zeit sind Pflichtteile kleiner, die verfügbare Quote hingegen grösser geworden. Mit anderen Worten: Der Teil meines Vermögens, über welchen ich nach Belieben verfügen darf, ist deutlich grösser geworden. Dies können Sie durch das Verfassen einer letztwilligen Verfügung erreichen. Möchten Sie gerne wissen, wie Sie Ihr eigenes Testament errichten können? Hier finden Sie unsere kostenlose Anleitung.

Nach der Revision ist vor der Revision

Es besteht zweifelsfrei eine Tendenz zur Reduktion von Pflichtteilen. In Deutschland werden bereits Stimmen laut, welche absolute Testierfreiheit fordern. Dies hätte zur Folge, dass über den gesamten Nachlass frei verfügt werden könnte. Hierzulande führt man diese Debatte bisher noch nicht.

Neben der kompletten Abschaffung von Pflichtteilen existieren jedoch auch weniger radikale Lösungen. Dänemark beispielsweise hat den Pflichtteil für Nachkommen auf maximal Fr. 250’000 (umgerechnet) limitiert.

Eine Diskussion, welche die Schweiz schon länger bewegt, ist diejenige über eine Erbschaftssteuer für direkte Nachkommen. Im Jahre 2015 lehnte das Stimmvolk die Initiative hierfür eindeutig ab. Die Initianten und Initiantinnen erhofften sich dadurch eine Umverteilung des Vermögens von der älteren auf die jüngere Generation. Das wachsende Alter der Erbenden sowie das zunehmende Erbschaftsvolumen könnte die Meinung der Bevölkerung mittlerweile geändert haben.

Mit einer gewissen Verzögerung sucht das Gesetz stets Lösungen für neue gesellschaftliche Phänomene. Um mit der Zeit Schritt halten zu können, muss das Erbrecht auch in Zukunft wandelbar bleiben.

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