Das Wichtigste in Kürze
- Eine sich in Notlage befindende Person hat einen familienrechtlichen Anspruch gegenüber deren Verwandten, wenn sie ihren eigenen elementaren Lebensbedarf nicht stemmen kann.
- Verpflichtet werden können Verwandte in auf- und absteigender Linie.
- Ein Anspruch besteht nur gegenüber Verwandten, die selbst in günstigen Verhältnissen leben, wobei die Schwelle in der Praxis relativ hoch angesetzt wird.
- Der Umfang der Unterstützung wird anhand der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten und der konkreten Notlage des Berechtigten bemessen.
Bin ich verpflichtet, für meine Verwandten aufzukommen?
Dem Grundsatz nach muss jede Person selbst nach eigenen Kräften für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Kann sie dies nicht, ist sie auf Hilfe angewiesen.
Im schweizerischen Recht gibt es eine Vielzahl von Anspruchsgrundlagen von Ansprüchen zur Sicherung der Lebensgrundlage eines Menschen. In erster Linie sind dies familienrechtliche und partnerschaftsrechtliche Unterhaltspflichten und Sozialversicherungsleistungen. Nur wenn diese für eine Versorgung nicht ausreichen, kommt eine Verwandtenunterstützungspflicht überhaupt erst in Betracht. Sind die Voraussetzungen nicht gegeben oder die Leistungen nicht ausreichend, gibt es als letztes Auffangnetz die Sozialhilfe.
Unter welchen Voraussetzungen ist eine Verwandtenunterstützungspflicht geschuldet?
Die Verwandtenunterstützungspflicht verpflichtet Personen, die in günstigen Verhältnissen leben, ihre Verwandten in auf- und absteigender Linie zu unterstützen, sofern diese ohne die Unterstützung in eine Notlage geraten würden.
Wer ist berechtigt, und wer ist verpflichtet?
Die Verwandtenunterstützungspflicht ist nur unter Verwandten in gerader Linie geschuldet. Berechtigte und Verpflichtete sind folglich Vorfahren und Nachkommen (Urgrosseltern, Grosseltern, Eltern, Kinder, Enkel, Urenkel usw.). Verwandte in der Seitenlinie (Geschwister, Schwäger, Onkel, Tanten usw.) sind demnach von der Unterstützungspflicht ausgenommen.
Es wird dabei auf den rechtlichen Verwandtschaftsbegriff abgestellt, und es wird nicht vorausgesetzt, dass die Familiengemeinschaft auch wirklich gelebt wird.
Wann kann von einer «Notlage» gesprochen werden?
Damit eine Person von der Verwandtenunterstützungspflicht Gebrauch machen kann, muss sie sich in einer Notlage befinden. Eine Notlage ist gegeben, wenn die bedürftige Person nicht genügend Einkommen, verwertbares Vermögen oder Drittmittel (z.B. Sozialversicherungsleistungen) hat, um für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Dies ist z.B. nicht der Fall, wenn die obligatorische Krankenversicherung die Kosten einer gebotenen Suchtbehandlung in einer Klinik trägt oder die bedürftige Person es böswillig unterlässt, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, obwohl sie es könnte.
Konkret heisst das, dass die bedürftige Person nicht für die notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Versorgung o.Ä. aufkommen kann. Zum Notbedarf zählt also nur, was zur Deckung des Lebensbedarfs auf bescheidenem Niveau nötig ist. Ob sie die Notlage selbst verschuldet hat, ist unbeachtlich.
Was sind «günstige Verhältnisse»?
Die Verwandtenunterstützungspflicht setzt ferner voraus, dass die pflichtige Person in günstigen Verhältnissen lebt. Das massgebende Kriterium ist, ob die Unterstützungsbeiträge ohne wesentliche Beeinträchtigung einer wohlhabenden Lebensführung ausgerichtet werden können. Viele Kantone stützen sich für die Prüfung und Berechnung der Leistungsfähigkeit auf die sog. SKOS-Richtlinien (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe). In erster Linie wird auf das Einkommen abgestellt. Wenn dieses nicht ausreicht, so darf auch das Vermögen der verpflichteten Person herangezogen werden, sofern die Lebensführung des Pflichtigen langfristig nicht beeinträchtigt wird und der Anspruch auf Bildung einer stabilen Altersvorsorge gewahrt werden kann.
Die Gesamtsituation der verpflichteten Person muss also eine wohlsituierte Lebensführung ohne wesentliche Beeinträchtigung des bisherigen Lebensstandards trotz allfälliger Leistung der Unterhaltsbeiträge gestatten. Der Leistungsumfang misst sich nach der Leistungsfähigkeit der pflichtigen Person.
Kann ich mich als Pflichtiger wehren?
In der Praxis wird es häufig so sein, dass die unterstützungsbedürftige Person sich zunächst an das Gemeinwesen wenden wird, um Sozialhilfeleistungen zu beziehen. Das Gemeinwesen hat – sofern alle Voraussetzungen gegeben sind – das Recht, die Gelder von den Verwandten ganz oder teilweise zurückzufordern. Sollten sich die Betroffenen nicht aussergerichtlich einigen können, entscheidet über den Umfang ein Gericht. Wenn besondere Umstände das Heranziehen einer pflichten Person als unbillig (unangemessen) erscheinen lassen, so kann die pflichtige Person sich wehren. Was als «unbillig» qualifiziert wird, ist grundsätzlich eine Ermessensfrage, die in einem Streit vom Richter geprüft werden müsste. Liegt Unbilligkeit nach Einschätzung des Gerichts vor, kann das Gericht die Unterstützungspflicht aufheben oder beschränken. Dies wäre beispielsweise in einer Situation gegeben, wo die unterstützungsbedürftige Person gegen den Pflichtigen oder eine diesem nahestehenden Person eine schwere Straftat verübt hat oder wenn jegliche persönliche Beziehungen zwischen den beteiligten Personen fehlt.
Ferner ist die bedürftige Person zur Rückerstattung an die Verwandten verpflichtet, sobald ihre finanziellen Verhältnisse es wieder erlauben.
Vorgehen bei mehreren Unterstützungspflichtigen
Sind mehrere Verwandte potenziell unterstützungspflichtig, so bestimmt sich die Reihenfolge nach der Erbberechtigung der Pflichtigen. Gegebenenfalls kann es vorkommen, dass dennoch mehrere Verwandte unterstützungspflichtig sind. Die Beträge sind anteilsmässig nach der Leistungsfähigkeit der Pflichtigen auszurichten; sie haften also nicht solidarisch.
Beachten Sie ausserdem:
- Die Einkünfte einer bedürftigen Person aus Verwandtenunterstützungspflicht sind steuerfrei. Hingegen sind die bezahlten Leistungen des Pflichtigen in Erfüllung einer familienrechtlichen Unterstützungspflicht nicht abziehbar von dessen Roheinkommen. Allerdings kann ein beschränkter Sozialabzug getätigt werden, wenn eine Leistung an eine erwerbsunfähige oder beschränkt erwerbsfähige Person bezahlt wird. Dies gilt für die direkte Bundessteuer und auch Kantone gewähren in der Regel einen solchen Abzug.
- Es wird häufig verkannt, dass getätigte Schenkungen bei der Vermögensberechnung wieder dazugerechnet werden, wenn sie ein bestimmtes Mass überschreiten. Diese Berücksichtigung ist zeitlich unbefristet. Daher kann das (Familien-)Vermögen nur in sehr begrenztem Rahmen durch Schenkungen «geschützt» werden.
- Da die Schweiz ein internationales Abkommen bezüglich Unterhaltspflichten ratifiziert hat, gilt die Verwandtenunterstützungspflicht auch für Verwandte, die im Ausland leben. Wie bereits erwähnt, kommt es nicht darauf an, ob eine tatsächliche Familienbeziehung tatsächlich gelebt wird.
Bedeutung in der Praxis
Die Verwandtenunterstützungspflicht spielt in der Praxis nicht eine allzu grosse Rolle, zumal der Grenzwert bezüglich «günstiger Verhältnisse» recht hoch angesetzt ist. Ausserdem wird der Umfang der Leistung jeweils so bestimmt, dass er gerade zur Deckung des Notbedarfs ausreicht. Dass sich eine Person «auf Kosten ihrer Verwandten» bereichert, dürfte daher wohl kaum vorkommen. Zudem wird die Verwandtenunterstützungspflicht in den meisten Fällen aussergerichtlich und freiwillig zwischen allen Beteiligten geregelt.