In einem NZZ-Artikel schrieb Roland Kunz zusammen mit Co-Autor Heinz Rüegger, dass das Sterben in gegen 60 Prozent der medizinisch begleiteten Todesfälle erst erfolge, wenn entsprechende Entscheidungen gefällt worden seien. Diese Entscheidungen betreffen passive Sterbehilfe, also ein Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen. DeinAdieu sprach mit Roland Kunz, Geriater und Palliativmediziner FMH sowie Chefarzt Universitäre Klinik für Akutgeriatrie im Waidspital Zürich, über dieses Thema.
Wer Entscheidungen treffen will, muss sich mit dem eigenen Lebensende auseinandersetzen. Was heisst das konkret? Roland Kunz: «Wir müssen uns bewusst sein, der Tod tritt nur in drei von zehn Fällen einfach so ein. Also durch einen Unfall, einen plötzlichen Herztod oder ähnliche Ereignisse. In sieben von zehn Fällen stirbt bei uns ein Mensch medizinisch begleitet.» Dazu gehören ebenfalls die verhältnismässig wenigen Patienten, Patientinnen die eine Freitodbegleitung durch Exit oder eine andere Organisation in Anspruch nahmen.
Das heisst, all diese Betroffenen fällen eine Entscheidung. Sie überlegen, möglichst in Ruhe, was will ich, was will ich nicht. Roland Kunz: «Ich erlebe das extrem unterschiedlich. Schnell, schnell eine Entscheidung treffen, geht in diesen Fällen nicht. Wir propagieren das so genannte Advance Care Planning. Nach der Information über die Diagnosen und mögliche Verläufe und Therapieoptionen formuliert der Patient seine Ziele, seine Werthaltung und die Grenzen der Behandlung. Mit anderen Worten, er versucht, sich festzulegen, in welchen Situationen er lebenserhaltende Massnahmen wünscht und wann nicht mehr. Am Schluss dieses Prozesses resultiert eine krankheitsbezogene, detaillierte Patientenverfügung, die bei Entscheidungen hilft, wenn der Patient sich nicht mehr äussern kann.»
Wer über ein selbstbestimmtes Lebensende nachdenkt, fragt sich, welches sind wichtige Werte für mich, welches sind meine Grenzen? Diese Antworten gilt es regelmässig zu überdenken und allenfalls einer neuen Situation anzupassen. «Nehmen wir das Leben im Rollstuhl», sagt Roland Kunz. «Ist jemand gesund und munter, kann er sich vielleicht nicht vorstellen, dass das Leben in so einem Gefährt noch sinnvoll ist. Sitzt man dann aber drin, siehts möglicherweise wieder anders aus. Genauso geht es mit den Grenzen. Sind sie einmal festgelegt, sollte man sie regelmässig überdenken und diese Gedanken gegenüber seiner Umgebung kommunizieren.»
Das Leben verlängert sich, weil wir, weil Angehörige für uns Therapieentscheidungen treffen müssen. Zum Beispiel in folgendem Fall: Ein betagter Patient wird mit einer Infektion ins Spital eingeliefert. Da kommts zur einfachen Frage «Antibiotika ja oder nein». Eine Frage, die über Leben und Tod entscheiden kann. Die Frage also: «Will ich eine lebensverlängernde Massnahme?»
Ein anderes Symptom wäre, wenn ein Patient plötzlich über schwarzen Stuhlgang klagt. Diagnose: Blut im Stuhl. Was tun? Eine Magen- oder Darmspiegelung machen lassen? Und dann? Wenn der Gastroenterologe einen Tumor entdeckt? Operieren? Eine schwierige Sache, wenn der Betroffene sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht äussern kann und die Angehörige nicht wissen, was der Betroffene nun möchte.
Roland Kunz schildert zur vertieften Erklärung folgende Geschichte: Ein hochbetagter Patient wird mit einem Darmverschluss in ein Regionalspital eingeliefert. Der herbeigerufene Chirurg sagt aufgeregt: «Sofort operieren, sonst werden sie jämmerlich verrecken und das mit grässlichen Schmerzen.» Nun, wer will das schon? Die Angehörigen sind geschockt, der hochbetagte Patient wird ins Zentrumsspital eingeliefert und gerät dort direkt in die lebensrettende und lebensverlängernde Maschinerie. Er wird sofort operiert. Danach behandelten die Ärzte eine Komplikation nach der anderen auf der Intensivstation. Bis sich der Sohn an Roland Kunz wandte und ihm sagte, «Mein Vater will gar keine lebensrettenden Eingriffe. Er wollte nur nicht unmenschlichem Leiden ausgesetzt werden.» Roland Kunz stoppte die Maschinerie, der Mann wurde palliativ behandelt und starb einen schmerz- und stresslosen Tod.
Was lief falsch? Hätte sich der Chirurg informiert und etwas Verantwortung übernommen, wäre der Patient gar nie im Zentrumspital gelandet, sondern palliativ betreut, friedlich gestorben – ohne Notoperationen.
Verantwortung übernehmen ist das eine. Wissen, welches Ziel ein Patient, eine Patientin hat, das andere. Roland Kunz ist es ein grosses Anliegen, dass die erste Frage beim Eintritt ins Spital folgendermassen lautet: «Was wollen Sie, welches ist Ihr Ziel? Was möchten Sie? Haben Sie eine Patientenverfügung?» Diese Antworten müssen den Arzt mehr interessieren als die lange Diagnoseliste eines multimorbiden Patienten. Für den Geriater und Palliativmediziner «macht es einen grossen Unterschied, ob ein Patient sagt, ich möchte nicht mehr nach Hause, ich mag nicht mehr, ich möchte in eine Institution. Vielleicht sagt der 88-Jährige, ich will nicht 90 Jahre alt werden oder die 90-Jährige sagt, ich will unbedingt 100 Jahre alt werden. Haben wir diese Antworten, wissen wir, was zu tun ist, wenn Komplikationen auftreten. Der 88-Jährige will nicht 90 Jahre alt werden, also heisst das für uns, wir machen keine lebensverlängernde Behandlung. Treten hingegen bei der 90-Jährigen Patientin im Rollstuhl Probleme auf, dann geben wir alles, ihr den Wunsch nach einem beschwerdefreien Weiterleben zu erfüllen.»
Für den Chefarzt Universitäre Klinik für Akutgeriatrie im Waidspital Zürich ist die Antwort auf die Frage «was wollen Sie noch von Ihrem Leben?», aussagekräftiger als die Antwort auf die Fragen «in welcher Situation wollen Sie was?» Dies zu beantworten überfordert erfahrungsgemäss Patienten und/oder Angehörige.
Selbstbestimmtes Lebensende: Wer entscheidet wie?
Oft müssen Vertrauenspersonen/Vertretungsberechtigte Entscheidungen fällen, ob sie nun für ihren Patienten wollen oder nicht. Was antwortet Roland Kunz, wenn jemand fragt, «Wie würden Sie entscheiden, Herr Doktor?» «Dann versuche ich herauszufinden, wie reagierte der Betroffene früher», sagt Roland Kunz. «Rannte er gleich zum Arzt oder sagte er, ‹es kommt schon so, wie es muss›.» Roland Kunz versucht, bei den Angehörigen Bilder abzurufen. «Ich will wissen, wie der Betroffene mit schwierigen Situationen umgegangen ist. Ich möchte wissen, ob er äusserte, was er will und was nicht. Wenn keine Einigkeit herrscht in der Familie, dann entsteht sie oft während solchen Gesprächen.»
Anstatt zu mutmassen, zu diskutieren, was jemand für ein «Lebensziel» hat, wäre es gut, wir wüssten es voneinander. Roland Kunz sagt. «Ich fände es klug, wenn an einer Familienzusammenkunft, an einer Geburtstagsfeier über solche Themen geredet würde. Angehörige müssen wissen, welche Werte jemand hochhält.» Der Arzt macht ein Beispiel: «Stehen wir vor der Frage, ‹Unterschenkel amputieren oder nicht?›, macht es einen Unterschied, ob jemandem Bewegung wichtig ist oder ob jemand gerne im Sofa sitzt und ein Bierchen trinkt.»
Roland Kunz findet, der Einzelne müsse über seine Werte nachdenken und wir, die Gesellschaft, müssten darüber reden. «Autonomie heisst nicht, dass ich nur für mich schauen soll. Ich muss meine Selbstbestimmung in Einklang bringen mit meiner Umgebung. Die Patientenverfügung soll deshalb niemand im stillen Kämmerlein ausfüllen. Wir sollten darüber reden mit unseren Angehörigen.»
Selbstbestimmtes Lebensende: Was gibt es denn für Möglichkeiten, zu sterben?
- Natürliches Sterben. Ein Unfall, ein plötzliches Ereignis, das Herz oder Hirn betrifft.
- Passive Sterbehilfe. Hier verzichtet jemand bewusst auf eine mögliche Therapie. Er setzt Medikamente ab.
- Sterbefasten. Bei diesem selbstbestimmten Lebensende sind viele falsche Vorstellung im Umlauf. Ist eine Krankheit fortgeschritten, ist es möglicherweise normal, wenn der Betroffene auf Nahrung und Flüssigkeit verzichtet. Wenn aber jemand gesund ist und auf diese Art sterben möchte, kann das Durstgefühl bereits am zweiten Tag unerträglich werden.
- Assistierter Suizid. Da muss der Betroffene die Handlung selbst vornehmen. Er muss den tödlichen Cocktail selbst trinken, die Infusion selbst auslösen. Wer das Rezept für ein todbringendes Medikament erhalten darf, ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Ein Arzt kann es einem lebenssatten, gesunden Menschen ausstellen, ohne rechtlich dafür belangt zu werden. Freitodorganisationen wie Exit oder Dignitas haben sich selbst Regeln auferlegt. Bisher kamen nur urteilsfähige, unheilbar kranke Menschen in den Genuss eines assistierten Suizids. Zunehmend werden diese Grundsätze aber aufgeweicht, und auch Menschen ohne lebensbedrohende Krankheit werden begleitet.
Diabetisches Koma statt Exit-Begleitung
Dazu erzählt Roland Kunz dem Autor eine kleine Geschichte. Vor Jahren meldete man mir, ein 82-jähriger Diabetiker habe dem Behandlungsteam im Spital eröffnet, er wolle mit Exit sterben. Sofort wurde Roland Kunz «alarmiert». Er redete mit dem Mann. «Sein Wunsch, zu sterben, war plausibel, er litt unter vielen Komplikationen.» Kunz sagte seinem Patienten, es gäbe noch andere Möglichkeiten, sein Leben selbstbestimmt zu beenden. Vor allem für einen Diabetiker. Er könne darauf verzichten, sich Insulin zu spritzen und sich gleichentags in der Spital-Cafeteria mit all dem «Verbotenem» eindecken. Also mit Cremeschnitten, Mohrenköpfen, Wähen und Studentenschnitten. Der Mann dachte darüber nach. Beim nachfolgenden Gespräch zog der Palliativmediziner eine Pflegefachfrau hinzu. Die drei besprachen den Sterbewunsch und einige Tage später meldete sich der Mann wieder. Er habe heute kein Insulin gespritzt und gehe nun in die Cafeteria. «In der Nacht fiel der Mann während des Schlafes in ein Koma und Tags darauf starb er», erzählt Roland Kunz.
Im besagten NZZ-Artikel heisst es: Zu einem reifen, humanen Umgang mit dem Sterben gehöre die existenzielle Fähigkeit, Dinge mit sich geschehen zu lassen, sich aus der Hand zu geben und anzunehmen, dass es Entwicklungen gebe, die sich unserer Kontrolle entziehen. Roland Kunz, Sie nennen das «Lebenseinstellung des Hinnehmens». Können Sie das erläutern, bitte.
Der Arzt lächelt, legt die Hände zusammen, platziert die Finger aufeinander und stützt das Kinn drauf, sagt dann: «Meiner Meinung nach, gehört Gelassenheit dazu. Jeder sollte eine Haltung entwickeln gegenüber seinem Leben. Sollte sich Gedanken machen über sein Lebensende.» Kunz legt eine Pause ein und spricht dann weiter. «Da tauchen Fragen auf. Etwa, wie wichtig ist mir der Blutzucker, der Blutdruck, was will ich noch in meinem Leben? Es gibt Leute, die lassen jährlich einen Check-up machen und geraten, übertrieben formuliert, in Panik, wenn ein Messwert sich verändert. Da wäre meiner Meinung nach der Gedanke angebracht, was will ich denn mit all den präventiven Vorsorgeuntersuchungen erreichen? Will ich steinalt werden? Will ich alles medizinisch Mögliche ausnutzen, um dieses Ziel zu erreichen?» Kunz legt nochmals eine Pause ein. Sagt dann abschliessend: «Lebt jemand in Afrika oder Südindien, stellen sich diese Fragen nicht?»
Roland Kunz schweigt. Zusammen schauen wir über die Stadt Zürich.
Text: Martin Schuppli/Fotos: Bruno Torricelli
Stadtspital Waid
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