Für den Arzt und Autor Alois Birbaumer ist die Option «Assistierter Suizid» ein Schlüssel, der Verzweifelte ins Leben zurückführen kann. Für sich selbst findet er die selbstbestimmte Option zu Sterben eine Belohnung nach hartnäckig selbstbestimmtem Leben.
Seit sieben Jahren weiss ich, was ein Leben mit zunehmendem Erblinden heisst. Seit sieben Jahren bin ich imstande, das direkte Erfahren von Farben, Formen, Strukturen als köstliches Gut zu schätzen. Seit sieben Jahren gehe ich bewusst aus dem Hause, auf die Strasse, ins Kino, in die Cafeteria, ins Theater. Allein, ohne fremde Hilfe, ohne zu stolpern und mit sicheren Schritten. In der Cafeteria kann ich die Tasse sehen, ergreifen und meinen Café geniessen, ohne ihn auszuschütten. Im Restaurant finde ich Messer sowie Gabel und kann das Essen im Teller erblicken, ohne mit der Gabel daneben zu stechen. Ich kann im Badezimmer das Duschgel selber hinstellen, wo ich möchte, die Brause finde ich auf Anhieb und kann mich duschen, ohne lange den Duschraum abzutasten.
Seit dem 35. Geburtstag nimmt Lindas Sehkraft ab
Sieben Jahre ist es nun her. Seit 2012 begleite ich ein- bis zweimal pro Jahr eine blinde, wohl noch junge Frau während einiger Tage. Dazwischen treffe ich sie hin und wieder, zu Diskussionen am Meer, im Gebirge. Ja selbst Bildergalerien besuchen wir. Die nahezu Blinde, nennen wir sie Linda, liebt Picasso, Miro, und ich bin jeweils gezwungen, in Worte zu fassen, was ich sehe.
In dieser Zeit habe ich gelernt, was es heisst, visuell nicht mehr am Leben teilnehmen zu können. Ich habe Verständnis für depressive Phasen, wenn diese Frau tagelang nicht das machen kann, was sie früher machte und was sie heute noch machen möchte. Ich verstehe, dass sie nächtelang nicht schlafen kann und dabei ihre schon hundertmal abgespielten Audiolibri hört, da sie ihre geliebten Bücher von früher nur in die Hand nehmen kann, mehr nicht.
Einem «sinnlosen» Leben Qualität geben
Ich kann verstehen, dass Linda mit ihrem jetzigen Leben nicht mehr viel anfangen kann. Einem Leben, das sie vor der Diagnose Retinopathia pigmentosa rundum genossen hat. Sie ist alleinstehend, hat keinen Partner, keine Kinder. Sie wohnt bei ihrer 25 Jahre älteren Mutter. Von ihr wird sie umsorgt.
«Hätte ich einen Partner», höre ich sie immer wieder sagen, «hätte ich Kinder, dann gäbe mir das Leben einen Sinn. Meine Freunde und Freundinnen treffen mich wohl hin und wieder. Sie haben ihre Familie, ihre Partnerinnen, Partner, ihre Kinder, ihr Leben. Und ich. Ich habe Mama.»
Vor sieben Jahren versuchte ich, Lindas Leben einen Sinn zu geben, die Arbeit musste sie damals aufgeben. Schon früher setzte sie sich für Behinderte ein, versuchte, in der kleinen mittelalterlichen Stadt Möglichkeiten zu schaffen, damit Gebäude für Behinderte zugänglich werden. Jetzt ist sie selbst behindert, und die Möglichkeiten sind noch immer nicht geschaffen.
So versuchte ich, in die Tat umzusetzen, was Linda vorschwebte. Sie wollte Lesungen mit ehrenamtlich tätigen Personen veranstalten. Wollte mittels «a voce alta» Sehbehinderten, alten und erschöpften Personen, Kindern, die noch nicht lesen können, Texte näherbringen. Ich motivierte sie, dieses ihr Ansinnen in Angriff zu nehmen, und Linda machte es. Aufgrund ihrer Initiative besteht heute eine Gruppe von über 20 Personen, die diese Lesungen unter kundiger Leitung regelmässig durchführen. Dank moderner Technologie kann Linda mit Text-to-Speech Kontakte pflegen.
Selbstbestimmtes Ende nach selbstbestimmtem Leben
Vor sieben Jahren sagte mir Linda klar, dass sie ein Leben ohne Sehen nicht fristen möchte. Sie bat mich, sie zu einer Organisation zu führen, die den assistierten Suizid ermöglichen würde.
Eine damals noch nicht 50-jährige Frau in den Tod begleiten. Das wäre eine gewaltige Herausforderung. Und was, wenn ich es nicht machen würde und sie in der Folge einen Suizidversuch unternähme? Einen Versuch, der mit grosser Wahrscheinlichkeit misslingen würde. Ist es doch nur ungefähr jeder 25. Suizidversuch, der gelingt. Wie sollte ich das verkraften können?
Zunehmendes Erblinden nährt Lindas Wunsch zu sterben
So meldete ich mich bei Exit, wo man uns klarlegte, dass eine weitere Zunahme der Krankheit, also der Blindheit, wohl ein Grund sei, aus dem Leben zu treten. Ein Hemmnis aber sei Lindas geringes Alter.
Mit der Option eines möglichen assistierten Suizids vergingen nun sieben Jahre. Immer wieder rief mich Linda an oder sandte Textnachrichten, und immer wieder konnte ich, dank der Option «assistierter Suizid», ihrem Leben einen Sinn geben. Ohne diese Option wären alle meine Versuche gescheitert.
Ich kenne verschiedene Personen mit demselben Krankheitsbild, die einen neuen Weg, ein wohl anderes Leben gefunden haben und, den Umständen entsprechend, zufrieden sind, ohne Option – «assistierter Suizid». Sie sind im selben Alter wie Linda. Leben unter ähnlichen sozialen Bedingungen. Die individuell verschiedenen Reaktionen Betroffener müssen wir von Person zu Person wahrnehmen, die Entscheide müssen sie fällen, wir können höchstens behilflich sein.
Und dann Lindas nächster Hilferuf: «Aiuto»
«Ich kann nicht mehr. Mi prende la disperazione, il pianto, la rabbia.» Linda ist verzweifelt. Sie will wissen, wie es nun bei Exit aussieht. Ich nehme erneut Kontakt mit der Organisation auf und erhalte die Auskunft, Exit mache für Ausländer keine Begleitungen mehr. Autsch. Nun hatte ich den Schlüssel verloren, der mir die Möglichkeit gab, die Verzweifelte immer wieder neu zu motivieren, sich aufzuraffen.
Also wende ich mich an Ex-International, bekomme sofort einen Termin, bringe die jetzt 54-jährige Frau zu einem Gespräch nach Bern. Ihre Probleme werden mit viel Empathie ernstgenommen. Linda müsse die notwendigen Abklärungen machen lassen und die Bestätigung ihrer Urteilsfähigkeit bringen. Noch immer scheint das Alter eine Rolle zu spielen, aber immerhin, wir erhalten den «Schlüssel» zurück, den wir glaubten, verloren zu haben.
Ein Fall von vielen. Ich führte verschiedene Gespräche dieser Art. Bisher konnte ich mit der Option «assistierter Suizid» immer ein «weiteres Leben» oder «neue Wege» ermöglichen. Sollte sich ein Patient, eine Patientin entscheiden, das Natriumpentobarbital einzunehmen, dann würde ich ihn, würde ich sie, selbstverständlich begleiten.
Begleiteter Suizid ist ein Teil der Palliative Care
Die Palliativ Care hat die letzten Jahre einen deutlichen Fortschritt in die Phase der letzten Lebenstage gebracht. Mit einer optimalen, lebensphasengerechten Betreuung können die Betroffenen meist ruhig ihrem Lebensende entgegensehen. Zur optimalen Betreuung gehören adäquate, den Symptomen angepasste Schmerzmittel, psychotherapeutische Gespräche und Medikamente sowie eine, der Kultur entsprechende, spirituelle Begleitung.
Und trotzdem erleben wir immer wieder Patientinnen, Patienten, die des Lebens überdrüssig sind, die keine Lebensqualität finden, die müde sind. Menschen, die es leid sind, mit ihren Gebrechen weiter zu leben. Dem Wunsch, diesem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, muss meines Erachtens Folge geleistet werden. Auf jeden Fall ist es Aufgabe eines jeden Arztes, einer jeden Ärztin, auf diese Wünsche einzugehen. Ein Gespräch zu führen, das nicht schon im Voraus ein «No Go» zum Ziel hat.
Natürlich kann ich verstehen, dass nicht jeder Arzt, nicht jede Ärztin diesen Schritt befürworten kann. Gründe können persönliche ethische Vorstellungen sein. Und natürlich erscheint immer wieder der 2500 Jahre alte Hippokratische Eid als Argumentarium. Und verschiedene religiöse Richtungen, die einen solchen Schritt nicht akzeptieren können.
Assistierter Suizid: In der Schweiz straffrei
Kein Arzt, keine Ärztin kann gegen seinen/ihren Willen gezwungen werden, Dienstleistungen zur Planung oder Durchführung eines assistierten Suizids zu erbringen. Das geht aus dem Artikel von Karen Nestor und anderen hervor. «Hilfe beim Sterben, Hilfe zum Sterben oder Hilfe zum Leben?»
Gemäss Art.8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) kann jeder Mensch über die Art und den Zeitpunkt der Beendigung seines eigenen Lebens entscheiden. In der Schweiz ist nach Art.115 StGB der assistierte Suizid straffrei.
Die Option «assistierter Suizid» kann Tore öffnen
Verzweiflung, Frustration, Unverständnis, Depression, sogar Aggression kann die Folge einer schweren neuaufgetretenen Behinderung sein (Blindheit, Lähmung, Amputation …). Meistens finden die Patienten, Patientinnen nach einem guten Gespräch einen neuen Weg in ihrem Leben. Wohlgemerkt: Nicht alle reagieren so, nicht alle akzeptieren ihren neuen Lebensweg. Einige wollen das Leben beenden. Nicht selten finden Patienten, Patientinnen mit der Möglichkeit des assistierten Suizids einen Schlüssel zu weiterem Leben, zur Ausschöpfung neuer Ressourcen, zu einem Versuch nochmals durchzuatmen. Sterbebegleitorganisationen bestätigen meine Aussage. Sie erleben relativ häufig, dass sich Patienten nach einer positiven Antwort bei der Organisation nicht mehr melden.
Selbstbestimmung im Leben und beim Sterben ist für mich ein Grundrecht
Selbstbestimmtes Leben scheint, wenigstens in der Schweiz, selbstverständlich zu sein. Leider kennt diese Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderungen oft Grenzen – in der Schweiz leben über 1,5 Millionen Behinderte, davon 330 000 mit starker Behinderung. Selbstbestimmtes Lebensende führt sehr oft zu Diskussionen.
DeinAdieu findet, dieses Grundrecht sollte jedem Menschen die Möglichkeit geben, selbstbestimmt über jegliche Art von Massnahmen beim Sterben zu entscheiden.
Text: Dr. Alois Birbaumer, Fotos: Paolo Foschini, Ueli Hiltpold
Bearbeitung: Martin Schuppli
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