Wow. Ich bin beeindruckt. Mein erster Blick im Heim von Nathalie und Dölf Mäusli in Schönbühl. Eine Wand voller Kindergesichter. Über dreissig Porträts auf Fotoleinwand hängen an einer grossen, weissen Wand. Da lachen die zehnjährige Miley und der dreijährige Max. Es sind Fotos aus verschiedenen Lebensjahren. Mein Blick bleibt hängen am Gesichtchen eines Bébés. Schläuchlein führen in seine Nase, Pflaster kleben auf den kleinen Wangen, die halboffenen Augen schauen neugierig in die Welt. Das muss Lenny sein. Nathalie gebar ihn am Mittwoch, den 27. August 2014. Er lebte nur 193 Tage.
Nathalie und Dölf wussten, ihr Zweitgeborener würde mit einem Herzfehler, genannt AV-Kanal zur Welt kommen. Im Internet lese ich Folgendes: Der Atrio-ventrikuläre Septumdefekt (Abk. AVSD), auch AV-Kanal und Endokardkissendefekt genannt, ist eine kombinierte Fehlbildung des Herzens im Bereich von Vorhof, Kammer und Scheidewand, bei der es zu offenen Verbindungen der Vorhöfe und der Hauptkammern kommt. Der AV-Kanal macht etwa drei Prozent aller angeborenen Herzfehler aus.»
Ein farbiges Tagebuch für Lenny
Nathalie nickt und öffnet ein dickes Buch. Ihm ist anzusehen, dass es oft angeschaut und gelesen wird. Es besteht aus unzähligen farbigen A5-Blättern und entstand während Lennys kurzem Leben im Inselspital auf der Intensiv-Station, der IPS. Hier schrieben und zeichneten die Pflegerinnen täglich rein, ebenso die Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, die Besucher, die Eltern und Schwester Miley. Sie war damals vier Jahre alt.
Es sei die 24. Schwangerschaftswoche gewesen, sagt Nathalie Mäusli, als bei ihrem Frauenarzt in Belp der grosse Organultraschall gemacht wurde. «Ich liebe Zahlen, Daten, Fakten. Das ist meine Welt.» Und diese Welt erhielt Risse. «Da ist glaub was», habe der Arzt gesagt. Die Schwangere musste für weitere Tests in die Insel. Das Rösslispiel nahm Fahrt auf. «Die Ärzte versicherten mir, unser Bub werde einmal tschutten können, wie die Gleichaltrigen. Es sei ein relativ gut korrigierbarer Fehler, den hätten Trisomie-21-Kinder ebenfalls.»
Nathalie Mäusli hörte diese Worte wohl. Tief im feinfühligen Mutterherz aber beschlich sie ein ungutes Gefühl. Weibliche Intuition nenne ich es.
Die Schwangerschaft verlief normal. Nathalie suchte sich eine Hebamme und lernte Anna Margareta Neff ((interner Link)) kennen. Die einfühlsame und liebenswerte Fachfrau arbeitet als freie Hebamme und leitet die Fachstelle kindsverlust.ch ((link)) in Bern. Wir kennen uns gut, mit Anna Margareta Neff realisierte ich einige Blog-Beiträge für DeinAdieu.
Herzoperation zwei Tage nach der Geburt
Lenny erlebte eine Kaiserschnittgeburt, Vater Dölf war dabei. Es sei harmonisch gewesen, sagt Nathalie. Ein Sommertag. «Mir fehlte ein Plan», sagt sie. «Ich brachte ein Kind mit Herzfehler zur Welt und wusste nicht, wie weiter.» In der Zeit nach der Diagnose habe sie gesagt, Lenny, wenn es so schlimm ist für dich, dann darfst du gehen.
Kaum geboren, verlegte das Team Lenny auf die Neonatologie. Dort arbeiten spezialisierte Fachpersonen, die sich um kranke Neugeborene sowie um «Frühchen» kümmern. Kaum zwei Tage auf der Welt, gings dem Neugeborenen schlechter, er musste auf die IPS. Im farbigen Buch steht: «Du hast einen Herzfehler und einen Schlauch in der Nase, der dir beim Atmen hilft.»
Eltern betreuten ihr Kind auf der IPS
Lenny musste an Gewicht zulegen, damit er genug Ressourcen hatte für die Operation. Und jetzt meldete sich Nathalies kämpferisches Mutterherz. «Lets fight!», sagte sie sich. «Ich gebe ihn nicht her.» Und so wurde die Intensivstation für über sechs Monate das Zuhause der Mäuslis. Nathalie wachte täglich von 9 bis 20 Uhr am Bett ihres Sohnes, die damals vierjährige Miley begleitete ihr Mami oft. Vater Dölf wachte von 20 bis 22 Uhr. Und er war es, der jede Nacht punkt drei Uhr die IPS anrief und sich nach Lenny erkundigte. «Sein Anruf wurde erwartet», sagt Nathalie. «Wir alle waren wie eine Familie und sind uns heute noch freundschaftlich verbunden».
Am Dienstag, 2. September 2014, eine Woche nach seiner Geburt, wurde dem Bébé das kranke Herz operiert. «Es war früher als geplant», sagt Nathalie Mäusli. «Ich dachte, eine Operation würde ausreichen.» Weit gefehlt.
Zwei Tage später steht im Tagebuch: Jeden Tag geht es dir besser, du hast deine Augen ein wenig geöffnet. «Es ging stetig bergauf», sagt Nathalie. Aber Lenny war immer noch intubiert, wurde durch die Nase beatmet.
Zweite Operation am Tag 21
Nathalie blättert eine Seite um, liest: «11. September: Lenny wird langsam ein Bébé, wird aufmerksamer.»
Zwei, drei Seiten später steht: 14.9. erstmals extubiert. Ein Bild von Lenny ist eingeklebt, ebenso stehen Werte drin, Protokolle, Analysen etc. «Zahlen taten mir gut, ich konnte mich daran festhalten», sagt Nathalie Mäusli.
19. September: Lenny, mittlerweile 21 Tage alt, muss wieder operiert werden: Lungenband verrutscht. Das komme vor, sagt Nathalie. Für sie begann der «Kampf» wieder von vorn: «Aber die Hoffnung war noch da.»
Im Oktober dreht sich alles um die anstehende Haupt-Operation: Lenny muss mehr zunehmen. Muss Reserven bilden. Das ist schwer für den kleinen Körper, dessen Lungen es nicht so gut geht. Die Atemprobleme zehren am Energievorrat. Ein Teufelskreis.
In jener Zeit begleitete ein Lied von Peter Reber die Mutter von Miley und Lenny. Dort singt der Berner Barde « … Dr Himmel uf Ärde, ja das wünsch’i dir» und einige Zeilen weiter unten singt Reber: « … I wünsche dir en Ängel, wo di bhüetet u guet zue dr luegt.»
Am 17. Oktober bekommt Lenny in der Insel Besuch von Miss Schweiz Laetitia Guarino, 21. Der Blick berichtete. Nathalie lacht, als sie den Eintrag im Tagebuch entdeckt.
Im Heute spielte die Ewigkeit
Sonntag, 19. Oktober 2014. Erster Mutter-Kind-Spaziergang. Nathalie wagt mit Lenny und Sauerstoff im Wägeli einen Ausflug an die frische Luft. «Ich sagte mir: Nicht im Gestern, nicht im Morgen, im Heute spielt die Ewigkeit.»
Der Montag, 10. November 2014, sollte Lennys Tag der Wahrheit sein. Die grosse Herz-Operation stand an. Nathalie schaut mich an, sagt: «Nach der OP musste das Team Lenny an die Herz-Lungen-Maschine anschliessen.» Sie legte eine kurze Pause ein und fährt fort. «Wir sahen sein Herz offen daliegen. Sahen, wie es pochte, wie es Blut pumpte.» Wieder schweigt sie. Sagt dann: «Da dachte ich, es kommt wohl nicht mehr gut». Die Ärzte sagten, die Chance, dass er von der Maschine wegkomme, seien sehr gering.
Das wollte Bébé Lenny nicht einfach so hinnehmen. Nathalie sagt: «Er kämpfte, wollte leben.» Das funktionierte. Vier Tage später konnte der kleine Patient abgehängt werden. «Wir hatten Hoffnung. Ich dachte, wenn er das schafft, dann … .» Sie lässt ihre Worte wirken. «Ich lebte von Tag zu Tag. Hatte keine Zukunftsgedanken.» Sie habe in dieser Zeit die Führung in der Familie übernommen, sagt sie und lacht. «Ich denke, Dölf war froh».
Am 16. Januar 2015 lachte Lenny erstmals
Nathalie und Dölf, die vierjährige Miley, das IPS-Team sowie Bekannte und Verwandten erlebte die Berg- und Talfahrt des kleinen Lenny. Es kam zu Komplikationen. «Wir hofften, der Boden werde fester. Ich sagte ihm, du bist unser Super-Müsli.» Am Montag, 21. November gings Lenny besser. Nathalie Mäusli erinnert sich: «Wir hörten viel Musik, hauptsächlich Country.»
Im Dezember tauchten wieder kleinere Probleme auf. Über vier Monate «lebten» Lenny und Nathalie bereits auf der IPS. Sie erhielten ein Bett am Fenster. Die Unterstützung durch Freunde und Familie war gross, das Engagement der Teams im Spital enorm. Aber die Tage und Wochen wurde zur traurigen Adventszeit. Lenny nahm nicht zu und im Januar stand eine weitere Operation an. «Wir hatten das Gefühl, unser Bébé müsse sich nun erholen.» Am Freitag, den 16. Januar fotografierte jemand Lennys erstes Lachen.
Nathalie und Dölf sahen sich in dieser Zeit selten. «Wir dachten, unser Neugeborenes wollen wir nicht alleine lassen», sagt Nathalie. «Entweder war er im Spital oder ich. Und wenn Dölf jeweils morgens um drei Uhr telefonierte, war ich hellwach und interpretierte jedes Aha oder jedes Ok. Hörte auf die feinen Unterschiede in seinen Äusserungen.»
Zum Halbjährigen ein besonders Geschenk
Ende Februar wurde Lenny wieder extubiert. Dieser Tag war für alle ein Meilenstein. «Die Hoffnung wuchs», sagt Nathalie Mäusli, «nachdem was wir alles bereits erlebt hatten.» Sie habe ihrem Buben gerne schöne Kleider angezogen und hätte auf der IPS viele Mütter kennengelernt. «Alle gingen sie wieder – wir aber blieben.» Das Leben im Spital sei eine Art Alltag geworden. Nathalie hätte als Pflegehelferin für ihr Kind eingesetzt werden können. «Ich kannte jedes Gerät, wusste mit den Zahlen auf den Monitoren etwas anzufangen. Meine Welt halt.»
Nathalie und Dölf entschlossen sich, am letzten Februartag Lennys «Halbjährigen» zu feiern. «Wir wusste ja nicht, ob der Bub jährig wird», sagt Nathalie. «Das Insel-Team war grossartig. Es blies Ballone auf und schmückte den Raum mit Girlanden. Alle Pflegerinnen der Station kamen, Ärzte, Ärztinnen ebenso und alle sangen Happy Birthday.» Sie durfte zusammen mit Lenny aufs Spitaldach und dort den weiten Blick in die Alpen geniessen. Eine besondere Geburtstagsüberraschung. «Ich genoss jeden dieser Tage als glückliches Geschenk. Lebte im Augenblick. Im Hier und Jetzt.»
Dann folgte diese verhängnisvollen Märzwoche. Es sei am 5. oder 6. März gewesen, als eine Pflegerin Nathalie von ihrem unguten Gefühl erzählt hatte. Eine weitere Operation war angesagt. Lennys Bauch wurde grösser, sein Kreislauf brauchte Unterstützung und der Darm des Bébés entzündete sich. «Ihm gings immer schlechter», sagt Nathalie. Sie habe sich Sorgen gemacht, habe sich gefragt, wie viel denn Lenny noch ertragen könne.
Der schwerkranke Bub bekam einen künstlichen Darmausgang. «Es wurde nicht besser», sagt Nathalie Mäusli. «Lennys Lungen waren defekt, Herz und Darm funktionierten nicht hundert Prozent. Wir fragten uns, was ist das für ein Leben. Fragten uns, was muten wir unserem Kind zu.» Sie macht eine Pause, wischt sich Tränen von der Wange.
«Die Ethikkommission tagte. Beriet darüber, ob und wann die Maschinen abgestellt werden sollten. Es war für alle eine schwere Entscheidung.» Sie schaut mich an. Sagt: «Stell dir den Moment vor, wo du als Mensch, als Mutter, als Vater entscheiden musst, wir stellen die Maschinen ab.» Der Moment sei extrem gewesen. Aber sie habe das gar nicht so empfunden, sagt Nathalie Mäusli.
«Sieben Monate kämpften wir um Lennys Leben»
Mit ihrem Mann diskutierte Nathalie, wer den sterbenden Lenny im Arm halten dürfe. Die Wahl fiel auf Dölf. Als er den Kleinen im Arm hielt, fluteten Sonnenstrahlen den Raum auf der Intensivstation. Ein trauriger Moment für alle. «Sieben Monate kämpften wir, kämpfte das IPS-Team um unseren Lenny, alle weinten, waren mega traurig. Wir zogen ihm frische Kleider an.»
Schwester Miley streute Sternlein über ihren stillgewordenen Bruder und entfernte ihm liebevoll einen Nasenböög. «So kann er doch nicht zu den Engeln gehen», habe sie gesagt», erzählt Nathalie. «Miley trug uns durch die Zeit, sie war enorm», sagt die Mutter und streichelt ihrer zehnjährigen Tochter über den Kopf.
Anna Margareta Neff besuchte die Familie jede Woche. «Sie war von Anfang dabei, stärkte mich in Zeiten, wo ich zweifelte, ob Lenny überleben würde. Sie besuchte uns im Spital. Begleitete mich, das war enorm wichtig.»
Im Garten pflanzten die Mäuslis eine Trauerweide und streuten dort Lennys Asche aus. «Jeweils am Geburtstag sowie am Himmelstag schmücken wir den Baum. Diesmal hängten wir am Montag, 8. März, seinem Himmelstag, farbige Stofftüchlein an viele Zweige.»
Eine Beerdigung gabs keine. «Wir feierten ein Fest und wollten uns mit einem Lachen bei Lenny bedanken. Für die Zeit, in der er bei uns war.» Lennys Sterne hätten sie begleitet beim Sternen-Barbecue. Sie hätten das Spital-Team eingeladen und alle seien gekommen, sagt Nathalie Mäusli. «Es war wunderschön im geschmückten Zelt, die Stimmung fröhlich. Dankbar. Und Lenny war, Lenny ist, dauerpräsent.»
Dritte Schwangerschaft: Die Angst sollte nicht siegen
Nathalie wollte wieder schwanger werden. «Die Angst war riesig», sagt sie. «Ich fragte mich: Soll ich vor Angst nichts tun.» Die aufgestellte Frau lacht. «Sie sollte nicht siegen. Ende 2016 fällten wir den bewussten Entscheid. Ich, das heisst, wir alle drei wünschten uns ein weiteres Familienmitglied.»
Sie habe sich gedacht, mir kann nichts passieren, das Schlimmste habe ich schon erlebt und während der Schwangerschaft verspürte ich gute Gefühle. Ich zehrte von gemachten Erfahrungen, wusste, wir schaffen das. Auch in dieser Zeit wurde ich von Anna Margareta herzlich betreut. Max kam am Mittwoch, 20. September 2017, per Kaiserschnitt zur Welt. Was für ein unglaubliches Kind ist dieser Max, habe sie sich gedacht. Ein Geschenk des Himmels.
Nathalie Mäusli sagt, sie hätte alle Ängste abgelegt. «Es kommt eh, wie es muss. Wir alle haben keinen Einfluss drauf.» Wie wahr denke ich. So geht leben im Hier und Heute.
Sie habe nie gehadert mit ihrem Schicksal. Und Dölf ebenso wenig. «Es war eine so stimmige Zeit.» Viel Liebe sei zusammengekommen, viel Verständnis. «Ich gehörte nie zu den Motzern», sagt Nathalie. «Ich bemühe mich, das Beste aus den Gegebenheiten zu machen.» Gut hätten sie getan, die Gespräche mit Anna Margareta Neff, mit all den Freundinnen Freunden, mit den Lenny-Frauen, mit den Ärzten. «Da ist viel hängen geblieben.»
Nun nimmt mich wunder, ob Nathalie an ein Leben nach dem Tod glaubt oder an eine Wiedergeburt. An die Seelenwanderung? Wir schauen uns an. Sie sagt: «Das habe ich mir lange überlegt.» Dann schweigt sie kurz, denkt nach. «Eine Wiedergeburt gibt es so nicht für mich.» Sie legt nochmals eine Pause ein. Sagt: «Was wissen wir denn schon, was da ist zwischen Himmel und Erde? Ich glaube an eine grosse Zufriedenheit. Und deshalb bin ich zufrieden und dankbar für alles, was wir haben. Lenny ist mit jedem Herzschlag mit und bei uns. Für immer. »
Text: Martin Schuppli, Fotos: Ueli Hiltpold
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