Stirbt ein Kind, gerät die Welt aus den Fugen  

Ihre beste Freundin verlor die kleine Shannon Frances einen Tag vor der Geburt. Ein Schock. Tabea J. schildert, was mit ihr geschah und wie sie helfen konnte.

Jeder braucht gute Freundinnen, Freunde. Vor allem dann, wenn einem das Leben übel mitspielt, wenn das Schicksal gnadenlos zuschlägt. Wenn der Schmerz unendlich gross ist, die Trauer grenzenlos und jede Zuversicht im Keller der Seele erstickt. Das geschieht, wenn einer Mutter das Kind stirbt.

Tabea erlebte diese Situation vor fast zwei Jahren. «Ich kenne Liza, meine beste Freundin, seit Geburt. Wir gingen zusammen in den Kindergarten. Ihrer Familie stehe ich sehr nah und fühle mich fast wie ein vollwertiges Mitglied. Gegen Ende Februar 2017 hätte Lizas Tochter zur Welt kommen sollen. Shannon verstarb einen Tag vor dem Geburtstermin – im Bauch der Mutter. Meine Freundinmusste ihr totes Kind gebären. Der Schmerz war unendlich gross. Körperlich und seelisch.»

Den Tag von Shannons Tod hat Tabea noch klar vor Augen: «Es war gespenstisch. Ich schrieb meiner besten Freundin, und bekam keine Antwort. Das war äusserst ungewöhnlich. Liza schreibt immer zurück. Damals nicht. Zuerst dachte ich, vielleicht liegt sie bereits in den Wehen und freute mich wie ein kleines Kind. Deshalb kontaktierte ich ihren Mann, als der nicht antwortete, wurde ich richtig nervös. Er hätte sicher reagiert hätte, wäre alles ok gewesen. Dann schrieb ich ihrer Mutter und ihren Schwestern, versuchte anzurufen. Niemandem antwortete. Da war mir klar, etwas stimmt nicht.»

Die nun folgenden 24 Stunden der Ungewissheit, waren schrecklich. Wer konnte, versuchte die verzweifelte Tabea zu beruhigen. «Ich war mir sicher, da ist was Schlimmes passiert.» Dann, am anderen Morgen, es war Freitag, der 24. Februar 2017, hat sich Lizas Mutter gemeldet. «Sie erzählte mir, was geschehen war und bat mich, Lizas Schwestern am Flughafen abzuholen und dann mit ihnen ins Spital zu kommen.»

Kindsverlust: Liza und Willem mit der verstorbenen Shannon
Zärtlich verabschieden sich die Eltern Willem und Liza von der verstorbenen Shannon. Ein unendlich trauriges, ein sehr wichtiges Ritual. Dieser Moment, festgehalten auf einem Bild, hilft vielen Eltern bei der Verarbeitung der grossen Trauer. (Foto: zVg).

«Shannons Tod traf mich wie ein Erdbeben»

In berührenden Worten schildert Tabea, was mit ihr geschah, als sie vom Tod der ungeborenen Shannon erfuhr: «Zuerst wusste ich gar nicht, wie ich umgehen sollte mit dem Schock. In Tränen brach ich aus. Ich bin noch jung, lebte wohlbehütet und eher sorgenlos. Dieser Tod traf mich, traf meine Freundin Liza, ihren Partner Willem, wie ein Erdbeben im Paradies. Plötzlich waren unsere Strassen voller Steine und Schotter. Es war als versperrten umgestürzte Bäume unseren Weg.
Eine Riesenwelle voller Gefühle brach über mich, brach über uns herein. Monatelang freuten wir uns zusammen mit Liza und ihrem Mann auf das Kind. Wir feierten jeden besonderen Moment. Jeden Ultraschalluntersuch, jede noch so kleine Bewegung im Bauch der werdenden Mutter. Liza und Willem wünschten sich dieses Kind so sehr, und wir alle konnten spüren, wie tolle Eltern sie werden würden. Liza erhielt unzählige Komplimente, wie sehr ihr doch die Schwangerschaft stehe. Und plötzlich – !BOOM! – auf einen Chlapf, sollte alles vorbei sein?
Ich versuchte, zu verstehen, was passiert ist. Ich versuchte, zu verstehen, was die beiden fühlen müssen. Ich versuchte, zu verstehen, wie ich reagieren würde. Ich versuchte, zu verstehen, was das für die beiden, was das für deren Familien und für mich zu bedeuten hat. Eine Leere machte sich breit. Ein Schwarzes Loch saugte alles auf und verdrängte alles. Ich fühlte Leere und Wut. Ich versuchte, zu verstehen, doch es ergab keinen Sinn. Warum ist Shannon gestorben? Wie konnte das einen Tag vor der Geburt passieren? War Sie krank? Eine Stillgeburt und keine Antworten. Bis heute wissen wir nicht, woran Shannon gestorben ist. Shannon war gesund und perfekt in jeder Hinsicht. Eine von 200 Mütter muss ihr Kinder frühzeitig gehen lassen – der Grund dafür ist oft unklar.
Liza ist eine Person, die mir so nah ist und ich so gut kenne. Und plötzlich war es, als hätte ich eine Fremde vor mir. Mich überkam eine Leere, eine Stille, eine Ungewissheit. Ich hatte Angst, als Freundin zu versagen. Hatte Angst, das Falsche zu tun, das Falsche zu sagen. Ich fragte mich: Sage ich zu viel? Sage ich zu wenig? Soll ich den Namen des Kindes erwähnen oder nicht? Kann ich Fragen stellen? Darf ich, beste Freundin, spontan vorbeigehen oder soll ich besser zuerst fragen. Ich war komplett verunsichert. Nichts machte mehr Sinn.
In meiner Verzweiflung las ich viele Artikel, recherchierte im Internet. Ich suchte nach Selbsthilfegruppen in der Nähe, für Liza, für mich. Ich wollte Rat holen, um Liza eine bessere Stütze sein zu können. Und ich fand die Jasmina Soraya Fondation. Fand Sabine Shah.

Kindsverlust: Sabine Shah berät Betroffene
Sabine Shah, selbst Mutter eines Sternenkindes, gründete die Jasmina Soraya Fondation und hilft mit ihrem Team, Eltern, Müttern und Vätern sowie Angehörigen mit einem Kindsverlust umzugehen. (Foto: Peter Lauth)

Kindsverlust: Sabine Shah machte Tabea Mut

Tabea hatte eine Frau gefunden, mit der sie reden konnte: «Ich erzählte meine Geschichte, die Geschichte meiner Freundin und war so dankbar. Ich dachte, vielleicht stehe ich dumm da, schliesslich bin ich ja nicht die Betroffene. Sabine Shah, selbst Mutter eines Sternenkindes, nahm sich Zeit, hörte mir zu und machte mir Mut. Das war es, was ich wirklich brauchte. Hilfe und Unterstützung. Von diesem Moment an, wusste ich, ich bin nicht allein. Ich hatte eine Stelle gefunden, wo ich mir in der Ungewissheit Hilfe holen konnte.»

Wer diese Zeilen liest, reagiert betroffen, fühlt mit. Tabea schreibt weiter: «Wenn deine Freundin, deine Schwester oder deine Tochter ein Kind verliert, ist es eine Situation, auf die niemand vorbereitet ist, ausser man hat es schon erlebt. Keiner weiss, wie reagieren. Sogar Mütter, die alles wissen, sind plötzlich Unwissende. So ein Tod bringt sogar Fremde zum Weinen. Jeder fühlt sich betroffen, und für alle ist es ein Schock, ist es unverständlich.»

In dieser Situation, nach dem Tod ihres Kindes, konnte Tabeas Freundin Liza ganz stark auf ihren Partner zählen. Tabea sagt: «Willem, 29, war einfach nur wunderbar. Obwohl er ebenso trauerte, kümmerte er sich liebevoll um Liza. Das tut er heute noch. Shannons Tod ist für ihn ebenso schwierig zu ertragen.»

Elf Monate später kam Dean zur Welt

Sagte seine Frau hundertmal dasselbe, verlor er nie die Nerven. Im Gegenteil, er antwortete ihr liebevoll. Und Willem schaffte es immer wieder, Liza aus einem Tief zu holen und, in gewissen Situationen, ihre Aussagen herauszufordern. Freunde und Angehörige machten sich ebenfalls grosse Sorgen um ihn, da er in den ersten Wochen keine Zeit hatte, sich der Trauer hinzugeben. Zu bekümmert war er um seine Frau und zu beschäftigt, das Geschehene sowie die Arbeit unter ein Dach zu bringen. Tabea: «Erst nach ein paar Monaten konnte ich die Trauer erkennen. Wie sehr er litt. Beide verarbeiten die Trauer verschieden, und das konnte man sehen.
«Liza und Willem sind nach wie vor ein Team. Sie waren sehr jung, sind es immer noch, und sie mussten etwas derart Krasses zusammen durchmachen.» Tabea ist überzeugt, «wenn die beiden das überstehen, werden sie alles überstehen, was kommen mag.» Tabea ist stolz auf den Ehemann ihrer Freundin. «Wir waren alle beeindruckt, wie er diese Situation gemeistert hat und wie sie ihrer Partnerschaft Sorge tragen. Ob zwei Jahre reichen, um diese Trauer zu verarbeiten? Tabea ist überzeugt, «die Liebe hält und die Folgeschwangerschaft hatte Vorrang», sagt sie. «Für die Romanze zwischen den beiden blieb nicht viel Platz in den vergangenen Jahren. Es war beiden klar, sobald das Kind auf der Welt ist, möchten sie sich gegenseitig mehr Zeit geben und wieder kribbelndes Herzklopfen in die Beziehung bringen. Das ist nun soweit und ich freue mich für Liza und Willem. »

Kindsverlust: Liza und Willem strahlen mit Dean um die Wette
Sie wünschten sich unbedingt ein Kind. Und die Folgeschwangerschaft verlief problemlos. Sohn Dean kam elf Monate nach Shannons Tod am 31. Januar 2018 zur Welt. Er wurde sehnlichst erwartet. Sein quietschvergnügtes Wesen lässt die Eltern strahlen. (Foto: zVg)

Tabea wünscht sich ebenfalls ein Kind

Die Freundschaft zwischen Liza und Tabea ist gross, ist intensiv, ist stark. «Wie pflegt ihr diese Nähe», will der Autor wissen. «Seht ihr euch oft, telefoniert ihr viel, chattet ihr, schreibt ihr euch Mails?» Tabea schmunzelt: «Ich sehe meine Freundin sicher einmal pro Woche und als sie wegen der Geburt im Spital lag, besuchte ich sie ein- bis zweimal die Woche. SMS schreiben wir uns praktisch täglich. In den schweren Zeiten von Liza und Willem ging der Kontakt eher von mir aus. Das war völlig okay. Ich hatte vollstes Verständnis. Wichtig war mir, dass Liza empfänglich war dafür und auf meine SMS reagiert. Das war alles, was zählte.»

Tabea hat noch keine Kinder. «Aber ich wünsche sie mir sehr», sagt sie. Dann erzählt sie überglücklich vom perfekten Mann, den sie seit bald zwei Jahren an ihrer Seite habe. «Ich denke, das mit dem Nachwuchs ist nur eine Frage der Zeit. Wir haben schon darüber gesprochen und wollen es auf jeden Fall versuchen, wenn der Tag reif ist.» Sie denkt nach. Sagt dann: «Was eine Schwangerschaft für mich bedeuten wird, weiss ich noch nicht.» Tabea macht eine Pause. Denkt nach. «Ich werde bestimmt nicht mehr ganz so relaxed sein. Es wird sicher Momente geben, wo Angst aufkommen wird. Was genau mit mir und meinem Partner geschieht, das werde ich wohl erst beantworten können, wenn ich einmal das Wunder einer Schwangerschaft am eigenen Leib erleben konnte. Wenn ich mein Kind in den Armen halte.»

Ein lebendes Kind in den Armen zu halten, war Tabeas Freundin anfänglich vergönnt. «Ich war im Spital dabei. Shannon verstarb am Tag zuvor. Die Bilder habe ich noch glasklar vor mir und werde diese herzzerreissende Situation wohl nie vergessen. Erst war ich komplett aufgelöst und bekam psychosomatische Störungen, konnte meine Beine nicht mehr spüren. Einmal fiel ich gar hin, da ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Da wusste ich, jetzt muss ich irgendwie einen Weg finden, mich wieder einzukriegen.»

Kindsverlust: Tabea bespricht sich mit DeinAdieu-Autor Martin Schuppli
Tabea J. und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli reden darüber, wie Freundinnen sich in schweren Momenten beistehen können. Etwa nach einem Kindsverlust. (Foto: Peter Lauth)

Trauernde Eltern brauchen Freunde mit viel Geduld

Das Wichtigste, das man tun kann für eine trauernde Mutter, sagt Tabea, sei viel Geduld aufbringen und ganz viel Verständnis. «Trauer braucht Zeit und lässt unsere Liebsten Dinge sagen und machen, die sie sonst nicht tun würden. Ich rate allen: Habt keine Angst, Fragen zu stellen, um mehr zu erfahren. Dazu gehören Fragen über die Geburt. Denn die Mutter hat geboren und das, wie Liza, unter schlimmsten Verhältnissen.» Wer denkt, er dürfe mit der Betroffenen nicht über das schlimme Ereignis reden, irrt womöglich.

Zu fragen bedeutet nicht, die Betroffenen daran zu erinnern, denn der Schmerz und die Gedanken an das Kind ist sowieso ein Teil ihres Alltags. Tabea findet, diesen Schmerz zu ignorieren, tue viel mehr weh. «Es schützt die Betroffenen nicht, zeugt meiner Meinung nach viel mehr von Ignoranz, oder Hilflosigkeit. Sollte das Gespräch für die Betroffenen dann doch zu viel werden, bin ich überzeugt, sie werden das kommunizieren.»

Zum Schluss Folgendes: Wer einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, helfen will, darf sein eigenes Leben nicht anhalten. «Es ist ihre Geschichte, nicht deine», sagt Tabea. «Tue gute Dinge für dich, damit du Kräfte tanken kannst. Und diese Kräfte kannst du dann wieder ins ‹Stärnemami› investieren.»

Für Tabea war es wichtig, so gut wie möglich «normal» weiter zu leben. «Gerade diese Normalität kann der Mutter helfen, wieder ins Leben zurück zu finden.»

Kindsverlust: Das rät Tabea Freundinnen und Angehörigen

Was soll jemand tun, wenn eine Freundin, ein Freund Unterstützung braucht nach einem Schicksalsschlag, nach einem Kindsverlust? Tabea J. rät Folgendes:

• Hab Ausdauer, hab Geduld, auch wenn vom Betroffenen wenig zurückkommt. Bleib dran.
• Stell Fragen zur Trauer, zur Befindlichkeit. Stell sie immer wieder, egal wenn die Antwort immer dieselbe ist.
• Erwähne das verlorene Kind immer wieder beim Namen. Und zwar nicht in der Wenn- oder Wäre-, sondern in der Ist-Form. Das Stillgewordene ist der Mutter Kind. Sie ist und bleibt seine Mutter.
• Lass dich nicht von Stimmungsschwankungen einschüchtern. Oft wissen Trauernde nicht, was sie wollen und brauchen. Ihre Stimmung kann von Tag zu Tag ändern.
• Hab weder Angst noch Hemmungen, Fragen zu stellen.
• Fürchte dich nicht vor Gefühlen des Betroffenen. Lass dich nicht aus falsch verstandener Rücksicht abhalten, etwas zu tun. Solange es von Herzen kommt, wird es bestimmt gut empfangen.
• Weiss jemand selber nicht, was machen, dann frag nach. Recherchiere, frag Betroffene, was sie brauchen und wie du helfen kannst.
• Fühle mit, aber leide nicht mit.
• Erwarte nicht zu viel von den Betroffenen, es sind kleine Schritte. Lass ihnen Zeit, aber denke nicht, der Ball sei in ihren Händen.
• Du musst den Schmerz nicht nachvollziehen können. Schliesslich hast nicht du die Katastrophe erlebt. Es reicht, wenn du es einfach akzeptierst. Frage, um zu verstehen. Und begleite sie durch den grenzenlosen Schmerz.

Text: Martin Schuppli, Fotos: Peter Lauth

DeinAdieu berichtete schon mehrfach über Kindsverlust

24. August 2017: Kindsverlust: Wie «muss» eine Mutter trauern? Link

16. August 2016: Kindsverlust: «Behandelt das verstorbene Kind mit Würde Link

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