Es chodered und lodered und tschodered und plodered.
Es tschidled und fidled und rigled und strigled.
Es gageled und sageled und rugeled und chugeled.
Es gigeled und stigeled und negeled und hegeled.
Es lädeled und gädeled und wädeled und bädeled.
Es dängeled und bängeled und zwängeled und stängeled.
. . .
Tony Ettlin
Innerlich kugelte ich mich vor Lachen. Staunte. Eine Lesung wars mit Musik. Veranstaltet vom Kulturkreis Walenstadt. Tony Ettlin las erst aus seinem Buch «Blätterteig und Völkerball». Dann schuf er schier endlose Anagramme aus denselben 35 Buchstaben. Sein «dängeled und bängeled und zwängeled und stängeled» erlebte ich als eindrückliche Darbietung wortgewaltiger Sprache und ausdrucksstarker Musik. Gespielt von Air Collage. Das sind Markus Tinner, Klarinette, und Marcel Roth, Akkordeon. Ich war hin und weg.
Diesen Mann, ein Schreibkollege, wollte ich kennenlernen. Etwas von seiner persönlichen Geschichte hören. Denn da schwirrte ein Wort durchs Zelt: «Schmiedgasse». Stans. Der älteste Dorfteil. Das war mir klar. Aber von der «Freien Republik Schmiedgasse» wollte ich mehr wissen.
Zwei riesige Tore riegelten die «Schmiedgasse» ab
Wir trafen uns einige Tage später. Tony Ettlin fasste sich kurz, erzählte mir Folgendes: «Es war an einem Sonntagmorgen, 1945, nach dem Krieg, als jemand in Stans bemalte Leintücher aufgehängt hatte. Darauf wurden Familien wegen allfälliger Nazinähe beschimpft.» Es seien die Schmiedgässler gewesen, unkte man im Dorf. «Das liessen sich die beschuldigten Handwerker und ihre Familien nicht bieten. Die Bäcker, Metzger, Schmiede, der Kaminfeger, die Ladenbesitzer scharten sich zusammen. Mit ihnen die Wirtsleute der «Melachere» – so hiess das «Drei Könige» –, dem «Schlüssel», dem «Hirschen» und dem «Sternen». Sie zimmerten zwei riesige Tore. Eins für den vorderen und eins für den hinteren Eingang der Schmiedgasse. «Ab sofort kontrollierten die Gässler, wer da rein kommt», sagt Tony Ettlin.
1955, fünf Jahre nach Tonys Geburt, holten die Schmiedgässler die Eingangstore zum Zehnjahresjubiläum der Freien Republik wieder hervor und feierten die erste Schmiegasschilbi. Mittlerweile findet der legendäre Anlass alle zwei Jahre statt. Das nächste Mal am 15. August 2020.
Backstube statt Gassenleben
1955 erlebte Tony Ettlin seine erste Chilbi. Er war der dritte von vier Brüdern. Lachend erinnert sich der Wortkünstler: «Wir Bäckersbuben machten Kinderarbeit, trugen Brot aus über Mittag. Fürs Essen blieb nur wenig Zeit.» Und abends stand der Bub in der Backstube. «Ich begann, ‹Schmelzerli› zu backen oder Nussgipfel. Das war der schöne Teil der Arbeit. Dafür verpasste ich vieles, was in der Gasse abging.»
Mutter Ettlin habe ebenfalls mitarbeiten müssen, sagt Tony. «Von morgens um vier bis nachts um zehn. Chrampfe lag ihr.» Aber in ihrem Herzen sei sie mehr Bäuerin gewesen als Geschäftsfrau. «Sie fühlte sich nie ganz wohl im Bäckereileben und in der Schmiedgasse.»
Schmiedgässler: eine schräge Handwerkergemeinschaft
Mich nimmt wunder, was denn anders gewesen sein soll an den Schmiedgässlern? «Sie waren eine schräge Handwerkergemeinschaft», sagt Tony. Der Verein Alpina, vor seiner Zeit, habe gar etwas Rebellisches gehabt. Er lacht. Sagt: «So ist er halt, der Nidwaldnercharakter. Es gebe gesellige, knorrige, etwas misstrauische Gesellen. «Das betraf vor allem die Männergesellschaft.»
Da habe es eine Abwehr gegen alles Fremde gegeben. Früher sei der Lopper ein Riegel gewesen. Dort habe das Ausland begonnen. Der Schmiedgässler erinnert sich an Zuwanderer, die sich problemlos integrierten und andere, die nie recht aufgenommen wurden. «Etwa die beiden reformierten Sozi-Familien aus Zürich», sagt Tony. «Die wurden systematisch ausgegrenzt.»
In der Regel besuchten die Schmiedgässler die Kirche im nahen Kapuzinerkloster. «Mussten wir zur Beichte, wussten wir natürlich, welcher Kapuziner schlecht hört. Ihm beichteten wir dann Dinge, die nicht so schlimm waren.» Die Jugendlichen machten die Rituale mit, gingen am Sonntag sogar in die lateinische Messe. Tony Ettlin schmunzelt. «Das war ein gesellschaftliches Ereignis. Dort schielten wir nach den Mädchen. Sie sassen im Kirchenschiff auf der linken Seite.»
Der wohl berühmteste Schmiedgässler war der Stanser CVP-Politiker, Regierungsrat Bruno Leuthold (1923–2018). In der damaligen Tschechoslowakei wurde er als Held bezeichnet. «Während der Revolution 1968 schmuggelte Bruno Leuthold Manuskripte der Opposition in die Schweiz. Dafür wurde er geehrt vom späteren tschechischen Präsidenten, dem Schriftsteller Vaclav Havel.»
sChileliechtli murmelte ihren Singsang stundenlang
Einen weiteren «Staatsbesuch» bauten die Schmiedgässler zum Ereignis aus. Das kam so: Der damalige Bundesrat Flavio Cotti besuchte seinen Parteikollegen Bruno Leuthold. Die Schmiedgässler erfuhren davon. In der «Melachere» beschlossen sie, den Gast aus dem Tessin auf Schmiedgass-Art zu empfangen. Sie organisierten einen Umzug mit Trommlern, alten Landsknechtskostümen, sowie der immer präsenten Schmiedgasse-Fahne. Dann stellten sie eine Feuerwehrleiter direkt vor den Politiker-Balkon und überbrachten dem Bundesrat ein Willkommensgeschenk. Auf diese sympathische Art und Weise ehrten die Schmiedgässler den hohen Herrn aus Bern sowie ihren Bruno Leuthold.
Ehre gebührte ebenfalls den Stillgewordenen. Tony Ettlin erinnert sich noch gut daran, wie Verstorbene in den Wohnungen aufgebahrt wurden. Und wie die Leichenbeterinnen, «eine von ihnen nannten wir sChileliechtli», stundenlang ihren Singsang gemurmelt haben. Bei Beerdigungen amteten die Buben als Kranzträger. «Das mussten wir vor der Schule erledigen. Dafür gabs dann einen Franken und eine halbe Stunde Schulschwänzen.»
«Glöckner» grüsst aus dem Jenseits
Tony Ettlin schmunzelt. Schalk blitzt in seinen Augen. Dann erzählt er vom Christe Walti. «Der Schmiedgässler läutete jeweils die Glocken in der Friedhofkappelle. Nach einem Fasnachtsball starb der Walti. An der Beerdigung wollte ein Kollege die Glocke läuten. Da riss das Seil – und der gute Man hielt den abgerissenen Stummel in der Hand. Die Glocke schepperte einige Male und blieb dann stumm.» Ich verkneife mir das Lachen. Tony schmunzelt ebenfalls. Er sagt: «Alle verstanden das als Waltis Gruss aus dem Jenseits.»
Tony erzählt mir eine weitere Geschichte: «In der Schmiedgasse lebten wir zwischen zwei Klöstern. Im einen wohnten die Nonnen, im anderen, ennet dem Friedhof, die Mönche.» Das bot Stoff für Gerüchte. «Wir erzählten uns, da existiere ein unterirdischer Geheimgang. Er diene dazu, den Nachwuchs der Gemeinschaften sicherzustellen.» Dann lacht der 69-Jährige und sagt: «Der Tunnel ist immer noch ein Thema. Wir wissen nicht, ob es ihn gibt.»
Es war ein Schock als Vater starb
Der Tony, das ist klar, erzählt gerne Geschichten. «Manchmal wurde ich in die Rolle ‹mach sChalb› gedrängt.» Es hiess, wenn der Tony dabei ist, wirds lustig. «Ich wollte mich weigern, aber das war schwierig.» So habe er früh begonnen, Texte zu schreiben. Er habe Värsli gebrünzelt für Geburtstage und Feste. Protokolle von Wanderungen und Velotouren habe er ebenso in Versform verfasst. 2007 erschien Ettlins Buch «Blätterteig und Völkerball», das von der Schmiedgasse- Kindheit in den sechziger Jahren erzählt.
Wir kommen auf das Thema Tod zu sprechen. «Es war ein Schock als mein Vater 1972 starb», sagt Tony. «Mein Bruder und ich weilten in Bangkok.» Die beiden flogen heim, nahmen an der Beerdigung teil. «Ich war traurig, aber hier», er zeigt auf sein Herz, «passierte nicht viel», sagt Tony Ettlin. «Vorerst.»
«Dann, nach zwei, drei Monaten realisierte ich, wir hatten nie von Mann zu Mann geredet.» Vater und Sohn hätten sich gut verstanden in der Backstube, konnten prima zusammenarbeiten. «Im Nachhinein wurde mir klar, ich hab was verpasst. Das war ein grosser Schock. Und es war nicht zu ändern. Mein Vater Robert war mir ein Vorbild als selbstständiger Handwerker und Unternehmer.» Und so rät Tony Ettlin: «Sucht das Gespräch vorher.» Ich kanns mir nicht verkneifen und sage: «Es ist immer zu früh … bis es zu spät ist.»
Haben Sie Ihre Papiere ausgefüllt?
Die Annäherung ans Thema Sterben schieben wir hinaus. Wer «sollte» nicht endlich einmal all die Papiere ausfüllen. Die Patientenverfügung, den Vorsorgeauftrag, das Testament. «Morgen machen wirs». Und dann? Erwacht jeden Tag ein neuer Morgen. Bis es zu spät ist.
Tony Ettlin schüttelt den Kopf: «Meine Frau und ich haben das gemacht. Die Papiere liegen alle ausgefüllt in einer Schublade. Wir sollten sie noch bei Vertrauenspersonen oder auf dem Notariat deponieren. Es sind genaue Anweisungen dabei, wie wir uns eine Verabschiedung wünschen. Schlicht soll sie sein. Vor allem durch Dankbarkeit geprägt für die gemeinsame Zeit. Mit klassischer Musik, die uns besonders berührt hat und einem Naturjodel. «Und», Tony blickt mir in die Augen, sagt: «Es soll gelacht werden.»
Ob das gelinge wisse er nicht. Die Anweisungen würden davon ausgehen, dass beide gleichzeitig sterben würden. «Was in den seltensten Fällen passiert», sagt Tony. «Andernfalls kann ja die oder der Zurückbleibende das Ritual bestimmen. Darüber sprechen meine Frau und ich oft. Solche Gespräche gehören zum bewussten Umgang mit dem Tod.» Die erste Begegnung habe er als Vierjähriger erlebt. Er habe nach Beckenried gehen müssen und den Grossvater im Sarg anschauen. «Dieses Erlebnis blieb mir ganz komisch in Erinnerung.»
Gut in Erinnerung habe ich die Passage in Tonys Auftritt, wo er zur Melodie des Alpsegens mit Worten und Buchstaben jonglierte. Darauf angesprochen sagt er: «Ich bin stark berührt, wenn ich Naturjodel, gregorianische Gesänge höre oder auf einer Alp den Betruf. Darum besuche ich ab und zu eine Jodlermesse in der Kirche. Das ist sehr ergreifend.»
Achtsam im Umgang miteinander
Und was passiert, lieber Tony, nach dem Tod? Der Angesprochene lacht. «Ja, das Leben. Ich bin ziemlich sicher, es ist nicht fertig, wenn es fertig ist.»
Eine Variante, denke ich. Und Tony Ettlin erklärt mir: «Meine Frau hatte zwei Lungenembolien und musste aufhören zu arbeiten. Darauf begann sie, in Hamburg Buddhismus zu studieren.» Während dieser sieben Jahre habe er viel mitbekommen. «Das prägte mein Verhältnis zum Tod.» Er macht eine kurze Pause. «Zudem hats mir die buddhistische Philosophie angetan. Ich versuche, ein gutes Leben zu führen. Die Denkart der ewigen Wiederkehr sagt mir zu, das achtsame Leben und das Streben nach Erleuchtung.»
Tony wird nachdenklich. «Alles, was ich in diesem Leben beachte, denke und tue, hat einen Einfluss auf mein Karma. Das Leben ist nicht fertig und nicht sinnlos. Es gibt eine ethische Grundlinie, wie sie in allen Religionen enthalten ist. Und diese buddhistische oder auch christliche Grundlinie sagt mir zu. Mit anderen so umgehen, wie man selbst gerne behandelt wird.»
Freitod: «Kommt für mich nicht in Frage»
Ein idealistisches Weltbild habe er keines. «Mir ist wichtig, Zivilcourage zu zeigen, mich zu engagieren für eine bessere Welt, wobei ich mein Leben nicht riskieren würde.» Und wie ists mit der Angst vor dem Tod? «Davor habe ich keine Angst.» Er hält kurz inne. «Eher vor dem Sterben.» Dann sagt Tony Ettlin: «Ich möchte diese Welt gesund und schmerzlos verlassen, wenn das überhaupt möglich ist.» Wir schweigen.
Ich frage ihn, wie er das mit dem Freitod sehen würde? «Kommt für mich nicht infrage. Ein Buddhist hat Respekt vor dem Leben.» Er würde kein Tier töten und sich selbst ebenfalls nicht, sagt Tony. Ich muss ihn erstaunt angeblickt haben. «Leiden aushalten gehört zum Leben», sagt er. «Es ist die beste Gelegenheit für ein gutes Karma. Wer sich das Leben nimmt, vergibt diese Chance.»
Das heisst: Leiden aushalten? Tony Ettlin nickt, erzählt von Tibetmönchen und von den Schmerzen, die sie ausgehalten hätten. «Sie ertrugen die Qualen der Folter mit sanftem, wissendem Lächeln. Sie zeigten keine Wut auf ihre Quäler. Für sie machte das alles Sinn auf dem Weg zur Erleuchtung.»
Das Leben ist Vorbereitung auf das Sterben
Wieder sind wir alle drei still. Nachdenklich. Die Gartenbeiz leert sich. Die Gastgeber-Crew isst Zmittag. Ich frage: Was machts mit dir, lieber Tony, wenn ich dir sagen könnte, du würdest heute Nacht still und leise sterben? Er lächelt verschmitzt. Sagt: «Keine Panik, ich brauche keine drei, vier Tage Vorbereitung. Die Vorbereitung auf den Tod passiert im täglichen Leben. So wie ich lebe, werde ich sterben. Und wie es dann genau ist, weiss ich nicht. Der Tod ist ein Übergang in einen anderen Zustand. Davon bin ich überzeugt.»
Kontaktadresse:
Tony Ettlin, Lättenstrasse 105
8142 Uitikon-Waldegg ZH
Tel. +41 44 493 38 50
tonyettlin.ch | oe@ettlin.info
immer zum Monatsanfang verschickt der Autor eine Kalendergeschichte per e-mail an alle Interessentinnen und Interessenten. Bestellen
Buch: Tony Ettlin «Blätterteig und Völkerball – eine Kindheit im Schatten des Stanserhorns», Limmatverlag, Zürich 2007 (mit einem Vorwort von Peter von Matt) ISBN 978-3-85791-532-1
erhältlich beim Autor: oe@ettlin.info oder im Buchhandel
Veranstaltungskalender: Tony Ettlin&AirCollage
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