Claudine Zuberbühler-Müller zwang ALS, die unheilbare Krankheit, bereits in den Rollstuhl. Das grösste Leid bereitete ihr nicht die Diagnose, sondern die Zeit davor. «Nicht zu wissen, woran ich leide, war schier unerträglich.» Seit fünf Monaten weiss die bald 64-Jährige: «Ich habe ALS.»
Den vergangenen Sommer erlebte Claudine Zuberbühler voller Tränen. 63 Jahre alt ist sie. Pensioniert. Unternehmungslustig. Glücklich verheiratet. Und dann diese Geschichte: Claudine leidet an ALS. «Bis ich das wusste, durchlitt ich Monate des Leidens. Tief unten war ich gelandet, im Tal der Schmerzen.» Das war vor bald zwei Jahren.
Alles hat einen Anfang. Claudines Leidensweg ebenfalls. Es geschah vor vier Jahren. «Ich sprang die Treppe hoch im Haus, wollte kurz im oberen Stock was holen», sagt Claudine. «Auf Tritt acht durchzuckte ein Blitzschmerz das linke Knie.» Diagnose: Meniskus gerissen. Es folgte eine Operation, die, gemäss Arzt, gut verlaufen sei. «Mein Knie schmerzte trotzdem noch. Ich hinkte beim Gehen, hatte einen schleppenden Gang. Röntgen war angesagt. Resultat: Knochen rieb sich auf Knochen. Die Folge: Osteo-Nekrose.
Claudine Zuberbühler hat sich gut informiert: «Ich muss dazu sagen, eine Osteo-Nekrose erleiden, so wurde mir erklärt, nur die allerwenigsten Patientinnen, Patienten. Die Häufigkeit liegt lediglich im Promillebereich. Der Orthopäde riet mir zu einem Kunstknie. Das wollte ich nicht. Deshalb unternahm ich alles, um eine Operation zu verhindern. Ich versuchte es mit Enzymspritzen, liess für mein Knie beten und pendeln, rieb täglich Olivenöl ein, sprach mit dem Knie, machte Faszien-Training, liess meine Schmerzen bei Liebscher-Bracht in Überlingen ‹wegdrücken›. Ich unternahm alles. Wirklich alles. War dankbar für jeden Tipp.» Sie legt eine Pause ein, sieht mich an, sagt: «Nichts half.» Claudine lacht: «Orthopäden pflegen zu sagen, «‹wenns genug weh tut, kommen sie alle von alleine›.»
«Sie sagten: ‹Reiss dich zusammen, bleib dran›»
Im Mai 2018 tats Claudine genug weh. «Ich erhielt mein künstliches Kniegelenk im linken Bein. Ein toller Arzt operierte mich. Einer mit besten Referenzen. Und ich bin eine, die hört auf die anderen. Oft dachte ich zwar: Nützts nüt, so schadts nüt. Dieses Mal kam es gut, das Kunstgelenk sitzt genau dort, wo es sein muss.» Sie seufzt. «Aber ich ging schlechter.»
ALS-Patientin Claudine Zuberbühler ist privat versichert. «Mir fehlte es an nichts. Nach einer dreiwöchigen Kur im Hof Weissbad, konnte ich gut Velofahren. Das war im Sommer 2018. Peter und ich unternahmen eine einwöchige Velotour am Chiemsee. Perfekt. Nur gehen konnte ich schlecht, ich bewegte mich hinkend vorwärts, humpelnd, im Seemannsgang. Kein Wunder, begannen die Diskussionen. Es hiess: ‹Du musst mehr trainieren, reiss dich zusammen, musst dranbleiben.› Und ich, ich blieb dran, machte Physio ohne Ende und absolvierte fleissig meine Übungen.»
Im November 2018 diagnostizierten Spezialisten eine so genannte Fussheberparese, einen eingeklemmten Nerv. Die Signale auf der linken Seite erreichten den Fuss, resp. das Bein nicht mehr. Ein MRI-Termin folgte. Diagnose: Bandscheibe lädiert, weil sich Knochen auf Knochen reibe. Die Leidensgeschichte nahm ihren Lauf. März 2019 in Zermatt: Erstmals gestürzt, auf dem Teppich im Hotelzimmer. April 2019 Veloferien in Südfrankreich waren geplant: Nächster Megasturz in einer Raststätte auf dem Weg in den Süden. «Vier Männer halfen mir, aufzustehen. Ich war total verdattert, sehr erschrocken, mein Herz klopfte bis in den Hals, ich zitterte während Stunden am ganzen Leib. Ans Velofahren war nicht mehr zu denken.» Mai 2019: Wieder steht eine Operation an. Claudine Zuberbühler: «‹Nei, nöd scho wieder›, dachte ich. Fragte mich, werde ich jetzt im Jahresrhythmus im Spital behandelt? Und kann jedes Mal schlechter gehen als vorher?»
Claudine sagt, es sei eine gute Operation gewesen. Sie wäre engmaschig betreut worden, und alle Kontrollen seien zufriedenstellen verlaufen. «Der Operateur sagte, den Rücken könnten sie gut flicken, die Fussheberparese aber sei kaum zu behandeln. Nervenleiden würden sich nur sehr langsam erholen. Tue sich nach einem Jahr nichts, bleibe es, wie es sei.» Claudine schaute mich an. Mit traurigen Augen.
Der «Dauerpatientin» gehts schlechter
Frühsommer 2019. Reha in Hof Weissbad in Weissbad AI. Dort fühlte sich Claudine immer sehr wohl. «Christian Lienhard, den Geschäftsführer, kenne ich seit über 40 Jahren aus Hotelfachschulzeiten.» In der Appenzeller Klinik stürzte die Patientin ein weiteres Mal. Diesmal im Beisein des Therapeuten. «Ich ging je länger je schlechter. Das belastete mich.» Der Sommer war tränenreich. Claudine fühlte sich als Dauerpatientin, der es immer mieser geht. «Ich machte Physio ohne Ende. Versuchte es mit Massagen, mit Akupressur, mit Fussreflex, mit Lymphdrainagen und, und, und.»
Im Herbst letzten Jahres schickte der Knie-Operateur die Patientin nochmals in den Hof Weissbad. «Meine Tage waren wieder voller Therapiesitzungen und Massageterminen. Fortschritte aber machte ich trotzdem keine.»
Nun begann der Ehemann gegenüber den Ärzten kritischere Fragen zu stellen. Peter Zuberbühler (66), einst erfolgreicher Unternehmer, wollte von Ärzten und Therapeuten wissen, warum seine Frau trotz all dieser Anstrengungen nicht besser gehen könne? Sie würde an Erschöpfung leiden, habe der Operateur gesagt und sie zum Psychologen geschickt. Im Weiteren würde sie zu viel weinen und solle einfach mal den Schalter umlegen. «Ich müsse mein Vorwärtsgehen buchstäblich visualisieren», sagt Claudine und macht eine Grimasse, schüttelt den Kopf. «Gemäss Rückenbild könne ich bis nach Genf wandern, hiesse es. Zudem riet mir der Doktor, Antidepressiva einzunehmen.» Sie schüttelt den Kopf. «Das kam für mich nicht infrage, weil ich Angst hatte, es würde meine Persönlichkeit verändern.»
Obwohl die Kranke nicht ohne ihren Rollator gehen konnte, sollte sie diesen stehen lassen. Sie müsse Stöcke nutzen. Nur diese Art von Fortbewegung sei das Richtige für den Gehapparat. Ein Rollator verursache zusätzlich eine schlechte Haltung, sagten Ärzte und Therapeuten. «Es hiess, ich solle meinem Geh-Apparat sagen, er müsse Fuss vor Fuss setzen.» Dann sagt Claudine: «Ich spürte, etwas dreht in die falsche Richtung. Stundenlang wurde ich mobilisiert, wurde massiert. Dabei hatte ich Zeit, mit den Therapeutinnen und Therapeuten zu reden, ihnen zuzuhören. Einmal, als die Therapeutin meine linke Seite behandelte, murmelte sie, ‹da chunnt au nöd de Huuffe›. Sie meinte wohl die Leitfähigkeit der Nerven.»
Peters Hausarzt sprach von Systemerkrankung
Claudines Mann konnte dem Ganzen nicht mehr zusehen und sagte zu seiner Frau: «Jetzt gehen wir zu meinem Hausarzt.» Das war am Mittwoch, 30. Oktober 2019. Claudine und Peter brachten einen Fragenkatalog mit. Der Doktor, ein Mittfünfziger, hörte den beiden geduldig zu. Nahm sich viel Zeit. Er habe sie ausreden lassen. «Zum Schluss sagte er: ‹Alles deutet auf eine Systemerkrankung hin. Ich melde Sie in der Neurologie am KSSG an›.» Die Patientin konnte mit dieser Information vorerst nicht viel anfangen. Erst als sie nachts nicht schlafen konnte, googelte sie «Systemerkrankung».
Die Suche zeigte Claudine verschiedene Möglichkeiten: «Erstens könnte ich Diabetikerin sein. Bin ich nicht, das kenne ich. Zweitens MS haben. Habe ich nicht, die Symptome sind mir bekannt. Oder drittens an ALS leiden. Diese Krankheit des Systems kannte ich nicht, schaute nach – und dann wurde mir klar: Ich habe ALS.»
Da lag Claudine nun im Bett. Ihr Peter schlief, und sie erlebte den grössten Schock ihres Lebens. «Ich hatte immer gewusst, in meinem Körper dreht was in die falsche Richtung. Jetzt verspürte ich eigenartigerweise sowas wie eine Erleichterung. Ich leide tatsächlich an etwas. Ich bin nicht zu faul. Übe nicht zu selten, mache nicht zu wenig Schritte. Die Schwierigkeiten, mich schmerzfrei zu bewegen, liegen nicht an mir. Da ist etwas Gröberes.» Claudine hält inne. Sagt dann: «Ich las, ALS sei die Krankheit der tausend Abschiede.» Wie wahr.
Fast zwei weitere Monate musste Claudine die Unsicherheit aushalten, bis sie einen Abklärungstermin im Kantonsspital St. Gallen erhielt. Belastende Tage und Wochen des Wartens folgten.
«Ich ertrug den Druck des Leidens, weil ich Klarheit wollte»
Claudine zuckt mit den Schultern. «Gewartet habe ich immer lange. Was nun folgte, erlebte ich sehr realistisch. Auf meinen Körper konnte ich mich nicht mehr verlassen. Als das Aufgebot des Spitals eintraf, landete ich nicht in der Tagesklink. Nein, man bestellte mich für drei Tage ins Spital. Eine schmerzhafte Zeit. An die 15 Nerven- und Muskeltests durchlitt ich als eigentliche Tortur. Schier endlos erschienen mir die Gänge des St. Galler Kantonsspitals, durch die ich geschoben und gefahren wurde. Meine Energie schwand, desillusioniert war ich.» Sie schaut mir fest in die Augen. «Helfen konnte mir nur das Resultat. Ich ertrug den Druck des Leidens, weil ich wissen wollte, woran ich erkrankt bin. Weil ich wissen wollte, ob wirklich keine Hoffnung mehr besteht.»
Und dann stand Weihnachten vor der Tür. Am 19. Dezember 2019, es war ein Donnerstag, erfuhr Claudine Zuberbühler: «Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie ALS haben.» Allerdings wollte sich die Ärztin nicht festlegen. Sie sagte, es sei nicht ganz eindeutig und riet mir, am Universitätsspital in Zürich eine Zweitmeinung einzuholen. Schliesslich erhielt ich einen Termin im April 2020. Das hätte nochmals wochenlanges Warten und Unsicherheit bedeutet.»
ALS-Nurse Bea Goldman, der rettende Engel
Verzweifelt, frustriert, hilfesuchend schrieb Claudine einer Freundin. Die recherchierte und stiess auf Bea Goldman (56), selbstständige Pflegefachfrau mit beeindruckender Ausbildung: MSc, RN Intensive Care und Pflegeexpertin für ALS, Medizinal-Cannabis sowie «Hoffnung» und Dozentin mit eigener Firma in St. Gallen. (DeinAdieu berichtete über den rettenden Engel vieler ALS-Kranker)
Am Dienstag, 7. Januar 2020 telefonierte Claudine erstmals mit der erfahrenen ALS-Nurse. «Das Gespräch dauerte 20 Minuten. Wir vereinbarten einen Besuchstermin für Freitag.
Claudine bat ihre Freundin Hanna, sie zu begleiten. Das Gespräch mit der ALS-Nurse dauerte drei Stunden. «Wir verstanden uns auf Anhieb», sagt Claudine. «Dank Bea Goldman ist mir nun vieles klarer. Ich wüsste nicht was machen, ohne sie.» Die erfahrene Pflegefachfrau verfasste einen Bericht mit einer To-Do-Liste und gab Informationsmaterial mit. Gute Ideen habe Bea Goldman entwickelt. «Ihr war es egal, ob ich eine medizinische ALS-Diagnose hatte oder nicht. Sie hat meine Beschwerden ernst genommen und mir Wege gezeigt, wie ich damit umgehen kann. Vieles sind praktische Dinge.» Claudines Stimme stockt kurz. Dann sagt sie: «Ich weiss nun, mit dieser Krankheit muss ich leben.»
Oh nein. Tief betroffen, schweige ich. Wir schauen uns in die Augen. Claudine sagt: «Glaub mir, es ist schlimm. Immer wieder fragte ich mich, pack ich das alles?» Wir schweigen. Claudine wollte eine offene Kommunikation. Wollte Klartext hören. Bea Goldman sollte nichts beschönigen. «Alles kam fadegrad rüber. Nach drei Stunden war ich klar informiert.»
Claudines Freundin machte sich Notizen. «Ich war nur imstande zuzuhören, mir ist alles extrem eingefahren.» Zuhause mochte sie ebenfalls nicht lange reden und erklären. Sie bat ihren Peter, er solle selbst einen Termin bei Bea Goldman wahrnehmen. Das geschah. Tage später waren die Eheleute auf demselben Wissensstand.
Nun zeigte sich, wie klug die Anstrengungen waren, am Haus bereits im Herbst Anpassungen vorzunehmen. «Wir installierten einen Treppenlift, legten Platten im Kiesgarten, montierten Stangen, wo ich mich halten kann. Die Balkontüre erhielt ein Schloss, alles ist rollatortauglich. Superrollstuhlgängig. Ich kann mich wunderbar bewegen.»
Claudine Zuberbühler blickt zurück auf eine vierjährige Leidensgeschichte. Alle Leiden hätten immer die linke Körperhälfte betroffen. «Das ist die Mutterseite.»
Essen und Trinken gehören zu den schönsten Dingen
Claudine kam am Dienstag, 6. November 1956 in Zürich zur Welt. «Aufgewachsen bin ich in Lachen am oberen Zürichsee. Mit zwei Schwestern. Eine ist älter, eine jünger als ich.» Beruflich stellten sich die Gastroweichen mit der KV-Lehre im damaligen Hotel Zürich. «Eine tolle Ausbildung, der Funke war gesprungen. Ich absolvierte im Belvoirpark die Hotelfachschule und schmiss anschliessend den Partyservice von Mövenpick, leitete das Schulsekretariat der Hotelfachschule Belvoir, sowie eine Weinkellerei.»
Claudine erging es wie vielen von uns. Sie verliebte sich am Arbeitsplatz. Ihr erster Mann kochte im Belvoir, sie arbeitete im Schulsekretariat. «Später führten Jürg und ich das Restaurant Erlenhöhe in Erlenbach», sagt Claudine. «Eine richtig gute Fressbeiz mit 14 GaultMillau-Punkten. Ich war Gastgeberin, führte den Laden.» Nach zehn Jahren, die engagierte Gastgeberin war 40, musste das Ehepaar ihr Restaurant aufgeben. «Wir konnten es leider nicht kaufen». Jürg starb ein Jahr später.
Seit drei Jahren verheiratet
Peter Zuberbühler und Claudine sind seit über 20 Jahren ein Paar und seit drei Jahren verheiratet. Getraut wurden sie 2016 im Zürcher Stadthaus. Und kennen gelernt? Peter lacht. Sagt: «Es war auf Galapagos.» Sie lacht ebenfalls. Sagt: «Aber ich war nicht einmal dort.» Nun muss ich komisch aus der Wäsche geschaut haben. Peter klärt mich auf. Er habe Claudines Mutter in einer Reisegruppe getroffen. Sie habe von ihren drei Töchtern geschwärmt, worauf er die Telefonnummer von Claudine wissen wollte. «Die gab sie mir nicht, versprach aber, meine Adresse weiterzuleiten.»
Gesagt getan, kaum zu Hause, schwärmte die Mutter von diesem Mann. Sie habe gesagt: Ruf ihn an. Claudine kramt in den Erinnerungen, sagt: «Ich fragte mich, wie beginne ich das Gespräch? Wie finde ich heraus, ob sich der angebliche Traumschwiegersohn als eigentlicher Traummann entpuppt?» Sie sass am Zürichsee in Meilen und er in Steinach am Bodensee. 113 Autokilometer entfernt.
Erfolgreiches erstes Date
Die beiden verabredeten sich für einen Weekendbesuch. «Aber nicht in einer Zürcher Bar oder einem Restaurant. Da hätte ich als Gastrofachfrau keinen Mann treffen können.» Peter liess sich nicht beirren. Er gab Gas. Claudine willigte ein zum gemeinsamen Hundespaziergang auf dem Pfannenstiel.
So begann die grosse Liebe. Peter teilte die hohe Affinität seiner Frau zur Küche, zum Essen und Trinken. Claudine: «Mein Vater und meine Mutter kochten sehr gut, und ich köchelte mit als Kind. Merkte bald, wer gut kocht, kann Komplimente einsacken, kann viel erzählen.» Ihr Vater sei ein sehr grosszügiger Mensch gewesen: «Ihm war kein Weg zu weit, um gut zu essen.»
Voll im Element fühlte sich Claudine bei der Schweizer Illustrierten. Sie arbeitete als Assistentin des Verlagsdirektors und als administrative Leiterin des GaultMillau. «Alle Berichte landeten bis zu sieben Mal auf meinem Schreibtisch. Ich konnte mein Fachwissen einbringen, mein Organisationstalent spielen lassen. Meine exakte und speditive Arbeitsweise passte.» Dann lacht sie fröhlich. «Und ich bin eine Lustige.»
Nun will der Hobbykoch wissen, wo sie am besten gegessen habe. Claudine lacht. «Unmöglich, all die Leckereien aufzuzählen, die ich in den vielen Jahren probiert habe. Unvergessen sind etwa Bernard Ravets Foie Gras sowie die von ihm zubereiteten Froschschenkel. Ebenso das Raclette in Baschis Grillrestaurant in Geschinen bei Reckingen oder das Entrecôte ‹Chez Nous› von Henri Scheibli».
«Hör ich Claudine weinen, tuts unendlich weh»
Zurück an den Bodensee, ins moderne, helle Haus. Zurück an den Tisch mit den Hühnern. Zurück zu Claudine und Peter, zurück zu ihrer Gesundheit. «Die war einst robust. Und ich – schlank und rank. Dann, nach dem Tod meines ersten Mannes, legte ich mir einen Panzer zu. Die jährlichen Entschlackungskuren halfen nichts. Ich konnte nie mehr so richtig abnehmen.»
Claudines terminales Schicksal, Peters ausweglose Situation lassen uns verstummen. Eddy legt seine Kamera weg, ich stehe auf, entferne mich einige Schritte. Gucke zum Fenster hinaus. Weit hinaus bis zum Horizont. Auf dieser Linie lösen sich Himmel und Wasser auf.
Claudine sagt: «Ich bin immer noch fröhlich, bin nicht niedergeschlagen, hadere nicht.» Peter nickt: «Und ich? Ich möchte mit ihr fröhlich sein. Hör ich sie weinen, tut das wahnsinnig weh. Ich kann da helfen und dort helfen. Bekomme die zunehmenden Einschränkungen mit und kann nichts dagegen tun. Das macht einen fertig.»
Peter Zuberbühler will nicht hausieren mit seinen Gefühlen. Er sagt: «Es belastet.» Claudine schaut ihren Mann an. «Ich muss nichts mehr verheimlichen. Meine Krankheit ist eine niederschmetternde Sache. Zwei, drei Freunde, Freundinnen können damit nicht umgehen. Sie lassen nichts mehr von sich hören.»
Dafür würden sich Leute melden, die sie kaum kennen, erzählt Claudine: «Sie bringen Blumen, Pralinen. Diese Menschen kümmern sich um uns, zeigen Empathie, leisten Nachbarschaftshilfe. Das freut uns sehr. Mich dünkt, es gibt Leute, die wachsen über sich hinaus.»
Was nun folgt, sind schwere Zeiten. Claudine und Peter versuchen der Krankheit immer ein, zwei Schritte voraus zu sein.
«Wir kochen immer richtig, mittags und abends»
Seit Januar 2020 kommen die Spitex-Fachkräfte täglich. Ihr Einsatz dauert jeweils gute 60 Minuten. Sie helfen der Kranken aus dem Bett und auf den Treppenlift sowie auf den Duschstuhl. «Waschen kann ich mich noch selbst», sagt Claudine. «Nach einer Stunde sitz ich dann am Tisch, geniesse mein Früchteplättli. Danach setze ich mich oft ‹ins letzte Büro›, regle meinen Nachlass, ergänze die Adressliste, arbeite an meinem Lebenslauf, lege Donationen fest, verfasste mein Testament und schreibe Abschiedsbriefe.»
Derweil beginnt Peter mit dem Kochen. Claudine schnippelt Gemüse, rüstet Salat. «Wir essen jeden Mittag richtig, ebenso am Abend.» Manchmal sei danach eine Siesta angesagt. Vor Corona hätten sie etwas unternommen. Das neue Auto sei rollstuhlgerecht, einen Patientenheber hätten sie ebenso organisiert. Der Krankheit immer einen Schritt voraus, das ist Bea Goldmans Devise.
Zweimal in der Woche meldet sich eine Tagesbetreuerin. Claudine hat sie engagiert. «Sie kommt von zehn bis vier. Dann kann Peter den Kopf verlüften, kann wandern gehen, velofahren.» Das war allerdings vor Corona.
Claudine benötigt direkte Hilfe. «Mir nützt es herzlich wenig, wenn jemand sagt, melde dich, wenn du was brauchst.» Sie schüttelt den Kopf. «Ich wünsch mir Leute, die agieren und nicht warten, bis ich anrufe oder schreibe.»
Der Körper von Claudine wird schwächer und schwächer: Am Karfreitag sei sie wieder zwei Mal gestürzt. Einfach zusammengesackt. «Es verunsichert unglaublich», sagt Claudine, «wenn auf den Körper kein Verlass mehr ist. Da kann der Kopf noch lange wollen. Lahme Beine sind nicht kontrollierbar. Brechen darf ich nichts, die Bänder und Sehnen überdehnen ebenso wenig. Meine Muskulatur hält nicht mehr.»
Schmerzen bereite ihr ALS noch keine, Medikamente brauche sie nicht. Claudine: «Vor einem Jahr sagte ich: In einen Rollstuhl sitze ich nie und nimmer. Und jetzt? Jetzt throne ich hier wie eine Grosse.» Sie schüttelt den Kopf. Leise sagt die ALS-Kranke: «Kaum jemand weiss, wie es mir wirklich geht. Was ich durchmache? Mittlerweile hat sich meine Stimme verändert, die Krankheit steigt langsam den Körper hoch. Was, wenn ich nicht mehr reden und nicht mehr durch den Mund essen kann? Das möchte ich nicht erleben.»
«Schaffts der Körper nicht, kann der Kopf lange wollen»
Claudine wäre nicht Claudine, wenn nicht wieder ein Lächeln ihr Gesicht zierte. «Weisst du», sagt sie «es gibt immer noch sehr viel Wertvolles in meinem Leben. Ich sehe nur noch den Horizont, schaue nicht zurück. Vieles liegt hinter mir. Jetzt will ich schaffen, was kommt.»
Das Bild vom Horizont gefällt mir. Regelmässige Leserinnen, Leser wissen das. Drum frag ich: Wie siehst du den Himmel? Claudine lacht, sagt: «Ich werde erwartet. Es gibt ein Wiedersehen. Meine Grossmutter starb mit 102 Jahren, Maman war 87 und mein Vater 73.»
Der Gedanke an die Eltern füllt Claudines Augen mit Tränen. Sie wischt sie weg. Sagt. «Ich denke, ich komme da oben an, geniesse die Zeit, und dann schauen wir weiter.» Sie lacht. «Oder?».
Wir verabschieden uns für heute. Mit einer herzlichen Umarmung, einem festen Händedruck. Coronamässig unkorrekt. Aber emotional sehr wichtig. Bhüet di, liebe Claudine.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Eddy Risch
Infobox
ALS-Nurse Bea Goldman schreibt über sich:
«In Kooperation mit Suzana Keller führe ich das Caregiver Center St. Galler Lattich Quartier.
Als Inhaberin berate und begleite ich zusammen mit Ärzten sowie Spitex-/Palliativdiensten Patienten mit ihren Angehörigen. Vermittle, wie man mit schweren neurologischen Erkrankungen so gut wie möglich leben kann. Mit einem grossen interprofessionellen Netzwerk biete ich Edukationsmöglichkeiten für Laien und Fachpersonen zu ALS/Neuropalliation, Pflege daheim, Medizinal-Cannabis sowie «Hoffnung». Wir sehen Hoffnung, in der Realität verankert, als zentrale, wandelbare Kraft in der Bewältigung des Schicksals.
Suzanna Keller übernimmt die Sozialberatung und, wenn gewünscht, psychologische Begleitung.
Daneben betätige ich mich aktiv im Vorstand der im Januar 2020 gegründeten Schweizerische Gesellschaft für Cannabis in der Medizin. www.sgcm-sscm.ch
Caregiver Center
Bea Goldman
Güterbahnhofstr. 7, 9000 St. Gallen
Tel. +41 44 461 22 44 | Mobile +41 79 669 75 77
goldman@caregiver-center.ch | www.caregiver-center.ch
***
Schweizerische Muskelgesellschaft
muskelkrank & lebensstark
Kanzleistrasse 80, 8004 Zürich
Telefon +41 44 245 80 30
info@muskelgesellschaft.ch | www.muskelgesellschaft.ch
Die Schweizerische Muskelgesellschaft ist Partner von DeinAdieu.
Das Profil der Muskelgesellschaft
In Form eines Legats können Sie die Muskelgesellschaft hier berücksichtigen: Zum Testamentservice
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