Und plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Schau ich aus dem fahrenden Zug, gleitet die Landschaft vorbei. Das Bild wechselt permanent. Oder es ist einfach da, und ich fräse ihm davon. Oder es lässt mich zurück. Im Abteil eines Schnellzuges von Zürich nach Bern. Coronamässig. Hinter schwarzer FFP2-Maske.
Ein Besuch bei meinem langjährigen Freund und Berufskollegen Ueli Hiltpold ist angesagt. Alois Birbaumer begleitet mich. In der Drei-Männer-Runde wollen wir über Ereignisse reden, die einem das Leben aufzwingt. Ereignisse, die jederzeit eintreten können – und dann ist plötzlich nichts mehr wie vorher.
So löst ein Ereignis das andere ab, eine Kette entsteht. Die Lebenskette. Das können wir nicht ändern. Die Kette beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Dazwischen folgt ein Ereignis dem anderen. Etwa, dass Alois und ich im Berner HB in den falschen Zug gestiegen sind, in Münsingen landeten und dann mit dem Taxi nach Belp fuhren, direkt vor Uelis Photographie- & Schwatzladen. «So lernt man Leute kennen», sagt Alois in seiner heiteren Art beim Verlassen des Taxis.
Ueli ist «geladen» – und er lacht herzlich, umarmt uns. Zu Tode betrübt hab ich meinen Freund erlebt und himmelhoch jauchzend. Immer klar analysierend. Fatalistisch. Was will einer mehr, wenn der Krebs und die Nebenwirkungen der Therapie die Gangart bestimmen, die Agenda füllen. Und das unter den erschwerten Covid-19-Bedingungen.
Vergessener Kuhdraht zerstörte Leben
Ich stell ihn vor, meinen Freund Ueli Hiltpold. Geboren am Donnerstag, den 19. März 1959, in Zürich. Aufgewachsen mit drei älteren Schwestern in gutbürgerlichem Ambiente am Zürichsee. Weil sich unsere Väter kannten, trafen wir Jugendlichen einander, pflegten einen losen Kontakt, verloren uns aus den Augen und trafen uns wieder: in den achtziger Jahren. Beim SonntagsBlick. Ueli war Bundeshausfotograf, Reporter. Sein Berufsleben faszinierte mich. Einer auf Achse, mit Politikern und Promis auf du, nahe beim Volk. Unerschrocken und hart im Nehmen.
Hart war Uelis Aufprall am Mittwoch, den 15. August 2005. Traumwetter. Uiii! Da trifft ein entspannter Mountainbiker auf einen gespannten, vergessenen Kuhdraht. Landete mit seinem Leben auf der Strasse. Verunfallt schwer. Brüche, Quetschungen, Risse waren die Folgen. Die Ärzte diskutierten, ob der linke Arm direkt an der Schulter amputiert werden solle. Er blieb dran. Die Operation im Inselspital dauerte 14 Stunden. «Als ich erwachte, lag ich alleine in einem Zimmer. Zum Glück. Der linke Arm war komplett bandagiert. Eine Narbe reichte bis unters Kinn und aus mir raus ragten Schläuche. Der Katheter stresste mich sehr. Blut und Eiter liefen raus. Mein Arm war blau. Über dem Bett hing eine Morphiumpumpe.»
Sieben Monate später stand die dritte Operation an. Das Team in der Chirurgie entfernte Schrauben und Schienen, erneuerte die Fixation. So weit, so gut. Ab Sommer 2006 sollte der nun seit einem Jahr rekonvaleszente Patient wieder 50 Prozent arbeitsfähig sein.
Sollte. Niemand hatte auf den einst ausgebuchten Fotografen gewartet. Die Bundeshausakkreditierung war weg. Auf den Fotoredaktionen der grossen Blätter standen andere oben auf der Liste. Frau Fotoredaktorin sagte: «Muesch halt une afange, liebe Ueli». Weg war es, das erfolgreiche ausgefüllte Leben.
Bundeshaus-Fotograf: Das war einmal
Wir wollen nun nicht ins Detail gehen. Zuviel gibts zu erzählen, zu fragen, zu erklären. Und weil sich ein Ereignis ans andere reiht, picken wir uns eines raus, eines nach Uelis gelungener Rehabilitation. Es bahnte sich an im Gespräch mit Tauchguides im ägyptischen Hurghada. «Ich wollte im Safaga-Resort schnorcheln, mich im warmen Meer erholen. Als ich nach dem Hausriff fragte, lachten die Guides. Sagten, es läge 800 Meter vor der Küste – in sechs Metern Tiefe. Schnorcheln unmöglich. Wenn ich wolle, würden sie mich tauchen lehren.» Ueli wollte. Tauchen wurde zur grossen Leidenschaft, die nötigen Brevets erlangte der Angefressene in Rekordzeit. Eine schöne Kette erfolgreicher Ereignisse entstand.
Im Herbst 2010 eröffnete Ueli Hiltpold auf Koh Kho Khao seine Tauchschule. In Thailand fand der Vollprofi einen Schweizer Investor sowie einen Einheimischen. «Ende Oktober wars soweit, wir eröffneten, legten los. Ich traute dem Thai, dachte, er sei interessiert, mit mir Geld zu verdienen.» Ueli wollte mit 55 Jahren auswandern. Dem Thai war klar, der Ueli bringt Geld und Know-how. Stimmt. Dazu brachte er eine Portion Naivität mit. «Ich meinte, ich könne mich auf alle verlassen.» Sagts und hängt ein Fluchwort an. Ein weiterer Worst Case brachte sich in Lauerstellung.
Ich fass mich kurz. Es kam anders in der Hiltpold-Tauchschule auf Koh Kho Khao in der Andaman-Sea. Uelis Erfolg weckte Neider. «Meine Partner waren unzuverlässig, ein einheimischer Tauchschulbesitzer begann mich mit der Mafia zu plagen. Ich stand Höllenängste aus. Im Januar 2011 wurde ich tätlich angegriffen, zusammengeschlagen.» Darauf nahm er einen Anwalt, versuchte, seine Partner zu mobilisieren. Vergeblich. Jo, der Dorfpolizist und Freund habe ihn gewarnt. «Er sagte: ‹Du musst von der Insel, ich kann für dein Leben nicht mehr garantieren›. Ich wollte nicht. Er zwang mich. Plötzlich war ich umgeben von fünf Polizisten. Im März erlaubte mir die Polizei, den Tauchladen zu räumen, bewaffnete Beamte zeigten sich auf der Strasse.» Der Schweizer bunkerte alles verbliebene Material ein. Flog zurück in die Heimat. Hohe Schulden drückten. Ueli war enttäuscht und gelähmt. Die Verbitterung raubte alle Zuversicht.
«Mit 55 Jahren fühlte ich mich beim uralten Eisen»
Wir kürzen nun ab, überspringen Frust und Mühsal der Nach-Thailand-Jahre. «Ich suchte Hilfe, suchte Unterstützung, wollte einen Job. 2013 war ich 54 Jahre alt und fühlte mich beim uralten Eisen.» Gefühlte tausend Bewerbungen habe er geschrieben, für nichts. «Ich hätte Hilfe gebraucht. Nach ein, zwei Gesprächen auf dem Sozialdienst war ich hilflos. Die sagten, ich müsste mein Auto mit 300 000 Kilometern verkaufen. Ein Riesen-Ghetto.»
Ueli Hiltpold rappelte sich auf. Arbeitete ab 2013 fünf Jahre auf dem Flughafen Belp, wo er alle Widrigkeiten im Dasein eines Hilfsarbeiters erdulden musste. Er bildete sich weiter. Versah die verschiedensten Jobs. Und es ging auf und ab in Psyche und Beruf und am 4. September 2015 war fertig. Wieder einmal. Verzweiflung machte sich breit. Mit schwerster Depression und Burnout landete der Gebeutelte in der Klink. Wollte sterben, wollte arbeiten, wollte leben. Wollte alles und konnte nichts. Und er landete wieder auf dem Belpmoos.
Ueli groundete im Bälpmoos
Als die Fluggesellschaft SkyWork im August 2018 pleite ging, groundete Uelis Leben auf dem Flughafen Belp mit ihr. Und so reiht sich ein Ereignis ans andere. Seit Anfang 2019 fotografiert Ueli wieder. Für den Bernerbär, für NAU, für DeinAdieu. Uelis Zuversicht wächst, die Kundschaft ebenso. Bis sich Monate später das Schicksal meldet: der Prostatakrebs. Er hätte bereits Metastasen gebildet, habe der Onkologe in der Insel gesagt.
Martin: Was ging in dir vor?
Ueli: Ich war erstaunt. Spürte keine Beschwerden. Anderseits überraschte mich gar nichts mehr. Diese Diagnose passte bestens zu den vorangegangen 15 Jahren meines Lebens. Es wäre zu schön gewesen, wenn einmal alles – wirklich nur ein einziges Mal – für mehr als sechs Monate rund gelaufen wäre.
Der Krankheit demütig begegnen
Martin: Kurz darauf trafst du eine radikale Entscheidung. Warum?
Ueli: Ich fühlte mich mental und körperlich fit. War für mein Alter gut trainiert und nach vielen mühsamen Jahren hatte ich eben erst wieder in meinen Beruf zurückgefunden. Das lebenswerte Leben zeigte sich plötzlich wieder in all seinen wunderschönen Schattierungen. Ich hatte eine Scheissangst, all das aufs Spiel zu setzen, wenn ich die Behandlung auf die lange Bank schieben würde … und irgendwie signalisierten mir die behandelnden Ärzte immer wieder, dass Eile und nicht Weile angesagt sei.
Und so dachte ich mir, lieber jetzt als später. Ich war überzeugt, acht bis zwölf Monate nach der Operation wieder einigermassen fit zu sein und Vollgas geben zu können. Deshalb entschied ich mich für die vollständige Entfernung meiner Prostata.
Alois: Die Belastungen durch die Operation, die Bestrahlungen sowie die Hormontherapie waren enorm und sind es nach wie vor, Rückschläge sind jederzeit möglich. Wie gehst du mit der Situation um?
Ueli: Einerseits mit viel Demut und Pragmatismus. Kann ich es ändern? Nein. Wie es auch kommt. Am Ende wird alles gut.
Anderseits mit viel Dankbarkeit. Denn ohne meine 15 «dunklen Jahren» wäre ich nie die Persönlichkeit, die ich heute bin. Ich kann wieder in meinem Traumberuf als Fotograf arbeiten, habe ein Atelier, meinen eigenen im Handelsregister eingetragenen Photographie & Schwatzladen in Belp und bin als Regionalfotograf für Nau.ch unterwegs.
Und last but not least habe ich meine beiden Manus. Die besten Freundinnen der Welt.
Mit der Seuche kamen die Ängste
In Belp eröffnet Ueli Hiltpold im Frühling 2020 seinen Photographie & Schwatzladen. Er wollte Menschen fotografieren, Dienstleistungen rund ums Bild anbieten. Er wollte schwatzen und schaffen, lachen und geschäften. So geht Leben, dachten wir uns. Und dann kam die Seuche.
Alois: Was waren deine Gedanken, als Bundesrat Alain Berset am Montag, 16. März 2020, den Lockdown ausgerufen hat? Was bedeutet es für dich, für dein Leben?
Ueli: Ich kann mich noch gut an diesen Tag erinnern. Eben erst stand ich unheimlich stolz, zufrieden und überglücklich vor der Schaufensterbeschriftung meines Ateliers. Als ich dann im alten Röhrenradio die Nachrichten hörte, schloss ich meinen Laden auf unbestimmte Zeit. (Ueli verwirft die Hände.) So hatte ich mir den Start nicht vorgestellt.
Natürlich plagten mich für kurze Zeit Existenzängste, durchlitt ich einige schlaflosen Nächte. Am Freitagnachmittag, 28. Februar 2020, habe ich mein Ladenlokal übernommen. Und sie lief gut an, meine wiedergewonnene Selbstständigkeit als Fotograf, wie erhofft. Klein, fein, regional. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich einige tolle Aufträge in petto. Und dann veränderte sich mein berufliches Leben in kürzester Zeit radikal. Alle Aufträge, die ich angenommen hatte, wurden innert weniger Tage ersatz- und honorarlos gestrichen.
Events zu fotografieren war einmal, und damit fiel ein grosser Teil meiner Aufträge weg. Zudem hatte ich grosse Angst, von Nau.ch entlassen zu werden.
Es kam anders. Nau erhöhte das Pensum, und ich war in meinen Regionen unterwegs, um Symbolbilder zu fotografieren. Nach überwundener Schockstarre dokumentierte ich den Lockdown.
Privat wurde es einsam in meinem Leben. Meine Kontakte beschränkten sich auf wenige Menschen und Geräte. Meine Nachbarn. Carmen, die für mich einkaufte. Mein Mac-Computer und alle anderen Apple-Spielzeuge.
Ich erlebte ebenso eine tolle Zeit. Ich genoss die verwaisten Plätze in und um Bern. Die Parkhäuser ohne Menschen und Autos. Ich genoss die Entschleunigung. Ich genoss alles, was dieser Lockdown mit sich brachte. Saubere Luft, wenig Verkehr und noch weniger Lärm.»
Ueli Hiltpold: «Ich bin austherapiert»
Aber es folgte ein weiteres Ereignis, das Ängste, Nöte und Unsicherheiten mit sich brachte. Diesmal setzten die Onkologen zum unerwarteten Keulenschlag an. Bei einer Nachkontrolle am 4. Mai 2020 entdeckten sie neue Tumorherde. Der Krebs meldete sich zurück. Ueli liess ihn bestrahlen. Sieben Wochen lang. Danach erhielt er Hormonspritzen. Sechs an der Zahl.
«Krebs», sagt Ueli Hiltpold, «ist eine Krankheit wie jede andere. Ich nehme sie an, kämpfe nicht. Es gab Momente, da konnte ich vor lauter Schmerzen nicht mehr liegen. Eine brutale Zeit. Und die Zeit, sie läuft dir davon.»
Uelis Erfahrungen mit Krebs sind traurig. Seine Schwester starb an Leukämie, sein Vater erlag einem Krebsleiden. «Ich fühlte mich unter Druck, als ich die Diagnose Prostatakrebs erhielt. Fürchtete, ich sei voller Metastasen. Eigentlich wollte ich nur eine palliative Behandlung. Die Ärzte verstanden nicht, worum es mir geht: Ich wollte meine Lebensqualität erhalten.»
Rückblickend würde er die Prostata nicht mehr komplett rausnehmen lassen. Damals habe er gedacht, ohne ginge es ihm besser. Und was ist jetzt? Ueli: «Ich wollte noch einige gute Jahre erleben. Es kam anders. Es gab Momente, da empfand ich, als bestünde mein Leben aus lauter Scherereien. Die Folgen der Therapien.» Er schweigt. Seine Augen schweifen durch den Raum.
«Für mich ist die Behandlung abgeschlossen. Ich bin austherapiert. Das was ich momentan lebe, entspricht nicht meiner Vorstellung von Lebensqualität».
Und, fährt er fort, wenn es gesundheitlich so weiter gehe, habe er bald weder Job noch Laden und müsse wieder beim Sozialamt vorsprechen.
«Man muss einsehen», sagt er, und seine Worte machen mich traurig, «irgendwann im Leben ist es vorbei, mit dem Wohlfühlen. Ich habe keinen Plan B mehr.» Alois und ich sind berührt. Erschrocken. Es wird leise im Photographie- & Schwatzladen an der Dorfstrasse 3 in Belp.
Schwarze Tage. Fies. Hinterrücks.
Martin: Wir kennen es beide aus leidvoller Erfahrung: Unsere Psyche ist ein zartes Gut. Sie ist verletzlich, schnell beschädigt und nur schwer zu heilen. Wie packst du diese Hürde?
Ueli: Wenn ich mein Hormondepot gespritzt bekommen habe, brachte diese Therapie jeweils meine Gefühle vollkommen durcheinander, ebenso meine Empfindungen, meinen Körper. Sie macht mir grosse Mühe. Das bin nicht mehr ich.
Und dann kommen sie wieder diese schweren, diese schwarzen, diese schwierigen Tage. Ganz aus dem Nichts und grundlos schleichen sie sich an. Feige und hinterrücks.
Ich bin aber über mich selber erstaunt, wie gut ich mit diesen Belastungen umgehen kann und wie rasch sie wieder verschwinden.
Noch vor kurzer Zeit war die Todessehnsucht näher als das Leben, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mit meiner Psychologin und meinem Coach um meine persönliche Freiheit gefeilscht habe.
Ich packe diese Hürde mit viel Selbstfürsorge. Und sicher ebenfalls, weil es mir gelungen ist, mein Leben wieder auf eine für mich lebenswerte Basis zu bringen.
Martin: In schwierigen Zeiten sind Menschen froh um ein funktionierendes Netzwerk. Wie arrangierst du dich?
Ueli: Netzwerk? Was ist das? Sind das die Menschen, die dich schlussendlich, wenns wirklich drauf ankommt, fallen lassen? Ich habe kein Netzwerk. Das Leben hat mich gelehrt, niemandem ausser mir zu vertrauen. Und sogar das fällt mir im Moment schwer.
Ich habe mich arrangiert, als «Einzelkämpfer» durch mein berufliches und privates Leben zu gehen und am Schluss wahrscheinlich auch so zu sterben. Ich habe viele professionelle Kontakte, aber das als mein Netzwerk zu bezeichnen, käme mir nie in den Sinn. Und in der Pandemiezeit habe ich sehr wenig bis gar keine Solidarität aus dieser Ecke gespürt. Wir sitzen ja nicht im gleichen Boot. Oder?
Privat habe ich einige wenige Menschen, die ich als Freunde, Freundinnen einschätze und auf die ich mich, so glaube ich, verlassen kann. Aber hier bin ich ebenfalls sehr vorsichtig und weiss, Misstrauen ist immer ein schlechter, ein richtig fieser Ratgeber. (Ueli schüttelt den Kopf). Nein Martin. Ich habe kein funktionierendes Netzwerk, das auf Gegenseitigkeit basiert und auf Augenhöhe funktioniert. Ich habe nur mich, auf den ich mich verlassen kann.
Als Fotograf die Facetten des Lebens kennenlernen
Alois: Zum Photographie- und Schwatzladen. Wie erlebst du die Menschen? Kommen sie erst wegen der Fotos und dann wegen dem Schwatzen?
Ueli: Es war und ist einfach immer wieder von neuem phantastisch, spannend, berührend. Das wahre Leben halt.
Der begeisterte Fotograf erzählt uns von seinen Kundinnen, Kunden, von seinen Gästen. Von der älteren Dame, die Tage nach dem Shooting zurückkehrte und sich fürs Porträt bedankt. Ihr Mann hätte eine Mordsfreude am Bild, sagt sie. Zufriedene Gesichter ebenso auf der Gemeindeverwaltung, wo Ueli alle Mitarbeitenden fotografiert hat. Glücklich, die etwas komplizierte Mitvierzigerin, die Bewerbungsfotos wollte und Tage später meldete, sie hätte die Stelle. Überraschend ein älterer Herr. Er habe einen Stick mitgebracht und Ueli gebeten, Bilder von John Wayne auszudrucken.
Alois: Als du dann im August/September 2020 zur Therapie ins Inselspital und dein Fotostudio wieder schliessen musstest, warst du sicher, nach einiger Zeit in den Photographie- und Schwatzladen zurückzukehren?
Ueli: Ja klar. Zu hundert Prozent.
Wenn ich damals gewusst hätte …
Alois: Warst du zuversichtlich, als dir die Ärzte die Möglichkeit erläuterten, nach der Strahlenbehandlung noch eine Hormonbehandlung zu machen? Haben sie in dir Hoffnung geweckt? Oder machten sie dich auf mögliche Misserfolge aufmerksam?
Ueli: Zuerst muss ich einmal klarstellen, dass es mir bei der Therapie nie um Lebensverlängerung, sondern immer um Lebensqualität ging. Das auch im Blick auf später.
Meine grosse Hoffnung beruhte darauf, innert nützlicher Frist wieder einigermassen fit zu sein. Das ist leider gründlich in die Hose gegangen. Ich weiss, ich beklage mich auf hohem Niveau. Aber es ist mein Massstab, der wichtig ist und zählt. Hätte ich vor zwei Jahren gewusst, wie es mir heute geht und wie die letzten zwanzig Monate verlaufen sind … ich hätte nie in die Operation und die nachfolgende Therapie eingewilligt.
«Ich habe kein Ass mehr im Ärmel»
Alois: Ich nehme an, du hast diese Therapie mit dem grossen Wunsch angetreten, eine deutliche Besserung zu verspüren. Ich nehme weiter an, du warst dir bewusst, der Tumor wird nicht für alle Zeiten verschwunden sein.
Ueli: Mir ging es vor der Operation und der Therapie ja nie schlecht, und ich verliess mich bei meinen Entscheidungen auf die Einschätzung und die Beurteilung meiner behandelnden Ärzte. Sie haben mich nach bestem Wissen und Gewissen beraten. Wie bereits erwähnt, wünschte ich mir keine deutliche Besserung. Ich wünschte mir Lebensqualität. Der heimtückische Krebs ist nichts anderes als eine Erkrankung, an der man sterben kann. Wie an so vielen anderen Erkrankungen, die erst mit dem Tod enden.
Alois: Sicher hattest du beim Antreten der Therapie verschiedene Optionen im Blickfeld. Etwa: Es geht mir danach deutlich besser, dann zurück in den Photographie- und Schwatzladen. Oder es geht mir schlechter, was dann?
Ueli: Kein dann. Nein. Es gab und gibt nur die Option Fotografieren und den Photographie-und Schwatzladen. Ich habe all meine Karten gespielt und kein Ass mehr im Ärmel. Wenn es mir nicht bald besser geht, bekommt diese Option deutlich Schräglage. Und wenn es mir noch schlechter geht, ist es an der Zeit die Exit-Strategie ins Auge zu fassen.
Martin: Wie gross ist die Bedeutung einstiger Höhenflüge? Etwa dein erfolgreiches Leben als Fotoreporter oder als Taucher in der Andaman-Sea. Können unvergessliche Momente ausgleichend, gar versöhnlich wirken?
Ueli: Es stimmt, ich hatte ein super tolles, geniales Leben. Voller Höhenflüge und mit vielen tollen, unvergesslichen Momenten. Momente, die ich nicht missen möchte. Aber das war ein anderes Leben. Das Leben eines anderen Ueli. Versöhnlich werden sie wohl nie mehr auf mich wirken. Da ist zu viel passiert und vieles davon hat mich unendlich tief in der Seele verletzt.
Erst seit kurzer Zeit kann ich meine alten Arbeiten wieder mit Musse anschauen. Einige davon hängen ja in meinem Atelier. Ebenso unzählige Bilder aus Thailand. Es hat lange gedauert, bis ich sie unbeschwert anschauen konnte, unendlich lange.
Sehen, wie die Welt in 500 Jahren ausschaut
Alois: Hattest du schon einmal Gedanken, wie dein Leben enden könnte? Was wäre ein ideales, für dich stimmiges Ende?
Ich liebe das Leben in all seinen Facetten und am liebsten würde ich für immer leben. Ich möchte sehen, was in 500 Jahren oder so aus unseren Autobahnen geworden ist. Möchte sehen, ob es den Thunersee noch gibt. Oder ob aus der Arktis ein blühender, wilder Kontinent geworden ist. Das zu wissen, zu sehen, wäre sehr cool.
Natürlich habe ich mir mehr als einmal Gedanken über meinen Tod gemacht, und manchmal musste es ganz rasch gehen mit diesen Gedanken. Solange ich tauchen konnte, stellte ich mir eine Sauerstoffvergiftung vor. Eine Stunde zusammen mit den Mantas schwimmen. Dann runter und reinen Sauerstoff einatmen. Aus die Maus. Schnell wärs ebenfalls gegangen, als ich beim Boonsung-Wrack tauchte und einen giftigen, majestätisch schönen Drachenkopf beobachtete. Was, wenn ich ihn berührt hätte? (Ueli schweigt kurz.) Später, als ich mit schwerem Burnout stationär in der Psychiatrie Münsingen lebte, stand ich auf den Gleisen. (Ueli gestikuliert mit den Händen).
Ich habe das Gefühl, Sterben ist nie einfach und nie stimmig. Nicht einmal, wenn jemand den Tod herbeisehnt, den Tod als Erlösung sieht. Sterben ist ein grosses Trauma für alle – vor allem für die Überlebenden. Dieses Ende kann niemand rückgängig machen. Darum möchte ich niemanden an mein Sterbebett einladen (lacht). Was ich auf keinen Fall erleiden möchte, wäre ein gewaltsamer Tod.
Wenn ich aber meine letzte Reise buchen könnte, würde ich am liebsten auf einem Boot mit Aerosmith im Ohr, gutem Essen im Bauch und einem Joint zum Dessert ganz alleine auf irgendeinem Ozean vom Tag in den Sonnenuntergang fahren. Und wenn die Nacht dann den Tag ablöst, würde es für mich definitiv dunkel. Das wäre schön.
Sterben? Am liebsten in Frieden, ohne Schmerzen
Alois: Wovor hättest du am meisten Angst in der Sterbephase?
Ueli: Am meisten fürchte ich mich vor Schmerzen und dem rationalen Wahrnehmen und Empfinden meiner Agonie. In so einem Fall, würde ich mir wünschen, dass ich mit Opioiden ruhiggestellt werde. Eine Sterbehilfeorganisation zu bemühen, kommt für mich derzeit nicht in Frage.
Darum nehme ich es so, wie es kommt. Ohne viele Gedanken, aber mit der grossen Hoffnung auf den Jackpot.
Text/Interview: Martin Schuppli und Alois Birbaumer, Fotos: Ueli Hiltpold
Uelis Photographie- & Schwatzladen
Ueli Hiltpold
Dorfstrasse 3, 3123 Belp
www.photosphere.ch | ueli.hiltpold@photosphere.ch
Mobile: +41 79 302 11 30
8 Antworten auf „Ueli Hiltpold lebt mit Krebs und ohne Plan B“
Lieber Ueli – mit feuchten Augen und mit kaum Worten darüber, was und wieviel du in den letzten Jahren aushalten musstes, versuche ich hier meine Gedanken einzutippen. Du schleppst einen Felsbrocken hinter dir her und hast das Lachen trotzdem nicht verlernt. Was für eine Stärke. Du bist ein so toller Mensch, ich bin sehr froh, dass ich dich kennen lernen durfte! Dass du trotz dieser Last das Lachen und deine schöne und witzige Art nicht verloren hast – bewundere ich…….
Lieber Martin
Du hast wieder einmal mehr einen herzerweichenden Artikel verfasst. Deine Art generell und im Besonderen mit solchen Themen umzugehen, ist grossartig. Du schreibst, wie zerbrechlich auch deine Psyche ist und wie verletzlich. Das ist die eine Seite, die andere: Sie ist Voraussetzung wie du dich auf beeindruckende Art und Weise in die Menschen «hineinbegeben» kannst, in deren Psyche, deren innerstes Menschsein berührst. Und, das ist ebenfalls das Schöne bei dir, wie du diesen Facettenreichtum der Menschen, alles, was sie ausmacht, in berührende Worte umsetzen kannst. Du und dein Schreibstil sind eins; zusammengewachsen. Schon immer gewesen. Und das macht mich froh, dich zu meinem wichtigen Netzwerk zählen zu können, auch wenn wir uns leider nie oft sehen.
Ursula hat recht! Ich kenne dich zwar nur vom Hörensagen und von deinen Reportagen her, aber ich bewundere dich, wie du mit all den Schicksalsschlägen umgehst. Du würdest sagen: Ha, umgehen muss! Deine pfiffigen Äuglein verraten, dass du das Leben, wie es nun mal ist und kommt, weiterhin, den jeweiligen Umständen entsprechend «qualitativ hochstehend» geniessen möchtest. Das ist eine gute Einstellung. Gratulation! Alles Gute!
Lieber Philipp
Ueli, Alois und ich wollten die Herzen berühren. Wollten Betroffenen signalisieren «ihr seid nicht allein mit eurem Schicksal».
Für mich, der ich die Menschen liebe, bedeutet jede Lebens-Geschichte eine grosse Herausforderung. Nicht nur, weil ich dem, der Erzählenden gerecht werden möchte. Das kann ich nur, wenn jemand sich auf das Wagnis einlässt. Mir sein Herz öffnet, so wie ich meines öffnen. Dann gilt es Facts & Figures in Worte zu fassen. Und das ist mein Handwerk. Ich liebe es.
Uii. Was für ein Geschwurbel. Lieber Philipp, danke für deine Worte. Ich gehe davon aus, du bist doppelt geimpft. Ich bin nach symptomloser, schwerer Covid-Erkrankung gefüllt mit Antikörpern und noch etwas gelähmt von brutalen Longcovid-Folgen. Aber ich rapple mich auf und dann wärs Zeit für einen Grizzlybärendrücker. Oder gar für eine weitere Geschichte. Abgemacht?
🙏🙏🙏
Abgemacht lieber Martin! Ja, vorgestern bekam ich die zweite Impfung. Alles gut, wie ich erwartet habe, ohne Komplikationen. Ja, mein Lieber, die Langzeitschäden sind noch nicht erforschtes Ungewisses. Hoffen wir, dass es «nur» die Müdigkeit sein wird. Gute Besserung!
Üse Sugus-Ueli💪isch so krass zum läsä u ds Ougewasser cha nümm ufghaute wärde😢schön gits di u o di Lade
Im Namen von Ueli Hiltpold möchte ich folgende Dankesworte veröffentlichen:
@ Ursula: Merci liebi Ursula … der Felsbrocken ist gesprengt … nicht zuletzt dank dem Gespräch mit Martin und Alois … und ich wandere auf meinem Kieselsteinstrand weiter …
@ Martin: Es ist schön zu spüren, wie sehr du dein Handwerk liebst … wir machen weiter …
@ Manu: Grâce à toi je suis le photographe que je suis aujourd’hui … tu m’as toujours soutenu, pas seulement quand je suis rentré à Berne avec une épaule cassée aprés un reportage pour le „Stern“ (🤣🤣🤣) … merci d’être toujours à mes côtés …
@ Philipp: Danke Philipp … das stellt auf und gibt Mut für neue Lebensgeschichten …
@ Sandra: I ha no Sugus, grad neui kauft … schön, dass du immer wieder i min Lade chunsch …