«Esther hat Darmkrebs.» Mein Gott, denk ich. Über ein Jahr ists her, als ich diese Nachricht hörte. Anfang April 2019 wars. «Und die Krankheit ist weit fortgeschritten.» Das zu wissen tat weh. Esther, eine langjährige Freundin, pensioniert, frisch verliebt. Diese fröhliche Frau hat Darmkrebs. Unfassbar.
«Hattest du denn nie eine Koloskopie machen lassen», fragte ich. Dieser harmlose «Eingriff» gilt als Goldstandard in der Darmkrebsprävention. Noch gut erinnere ich mich an Esthers Antwort. «Nein, warum sollte ich. Zwäg und gesund fühlte ich mich zeitlebens. Voller positiver Energie, ausgestattet mit einer Menge Selbstheilungskräften.» Sch … denke ich, dem war nicht so.
Ende März 2019. Esther nahm erste Symptome nicht ernst. «Beim Joggen suchte ich Toiletten, anfallartig starke Darmtätigkeiten zwangen mich dazu. Bald kannte ich alle öffentlichen WCs ‹meiner Orte› und auf ‹meinen Strecken›. Beschwerden hatte ich erst in den Ägypten-Ferien. Im Stuhl entdeckte ich Blut, sitzen konnte ich kaum mehr. Felsenfest überzeugt war ich, es seien lästige Hämorrhoiden.» Der leidenden Frau war klar, «ich muss zum Arzt.»
Es waren keine Hämorrhoiden
Der Gastroenterologe in der Hirslanden-Klinik Zürich habe sie nach dem Untersuch erstaunt angeschaut und gesagt, das seien keine Hämorrhoiden, das sei ein Geschwür, das müssten sie genauer untersuchen.
Esther Spiess: «Tage später bestellte mich der Arzt zum Besprechungstermin. Wie bei all diesen Sitzungen war Enzo dabei. Der Gastroenterologe sagte, «es sind keine Hämorrhoiden, das wussten wir letztes Mal schon. Es ist Darmkrebs.»
Darmkrebs. Dieses Wort entfaltet die Wirkung eines Schlages in die Magengrube. «Ich fragte, wie gehts nun weiter?» Der Chirurg, ein Professor, habe Zeit gehabt, das sei ihr Glück gewesen. «Nicht nur, weil er eine Kapazität ist auf seinem Gebiet. Nein, er redete sehr ruhig und klar mit uns, mit meinem Schatz Enzo und mir. Er sagte: ‹Sie sind schwer, schwer krank Frau Spiess›.» Esther hält kurz inne. Sagt dann: «Ich dachte, das kann nicht stimmen. Nein. Das nicht. Ich wollte tapfer sein, wollte auf keinen Fall weinen. Wollte nicht, er könnte denken, ich würde verzweifeln. Das, gerade das, wollte ich nicht.»
Der Professor beschied ihr, die Leber sei voller Metastasen und der Tumor wäre bereits sehr gross. Es sei Krebs. «Das fand ich zuerst nicht so schlimm», sagt Esther Spiess. «Ich wollte die Bilder sehen.» Sie stockt kurz. «Mein Gott, es war so schlimm.» Danach wurde allen klar: Eine Operation wäre schwierig. Zu nahe liege das Krebsgeschwür am Enddarm.
Draussen vor dem Spital, unweit des langjährigen Arbeitsplatzes der Mittsechzigerin, wars dann vorbei mit hart bleiben, sich nichts anmerken lassen. Enzo und Esther weinten vor der Tür. Heute lacht sie, sagt: «Enzo machte mir einen Heiratsantrag. Ein rührender Moment.» Sie schüttelt den Kopf. «Heiraten? Bestimmt nicht. Das war immer abgemacht.» Sie unterbricht sich mit legendärem Esther-Lachen, sagt: «Ich weiss, wovon ich spreche, wenns ums Heiraten geht.»
Was in kommender Zeit folgte, waren Medikamententests. Dann Chemo-Besprechung. Erstes Ziel: die Leber behandeln. Dazu brauchte der Onkologe eine DNS-Analyse. Es werde eine Hammer-Chemo, wurde der Patientin erklärt. Was das bedeute, habe sie nicht gewusst.
«Ich sorgte mich um meine Angehörigen», sagt Esther. «Schlimm war, es meiner Tochter Jacqueline zu sagen. Ich fiel nicht mit der Tür ins Haus. Gab mein Wissen nur scheibchenweise weiter. Versuchte alles zu verharmlosen.» Vor Enzo konnte sie das nicht. Er war bei allen Besprechungen dabei.
Weiter Untersuchungen waren nötig. Esther musste in die Radiologie, es wurden CTs erstellt, verschiedenste Abklärungen getroffen, die Lage des Tumors analysiert. Das MRI zeigte Metastasen auf der Leber. Eine weitere Endoskopie folgte. «Proben nahmen sie. Proben, Proben und immer wieder machten sie Tests, Tests, Tests», sagt Esther.
Das «letzte Büro» ist gemacht
Nach dem Heiratsantrag ging Esther mit Enzo im Vorderen Pfannenstiel essen. «Wir tranken eine Flasche Rioja und assen Tatar. «Enzo sagte, ich müsse die ihm versprochenen 30 Jahre Partnerschaft einhalten. Wir verbrachten einen super Abend.»
Dann habe sie Enzo heimgeschickt. Er wohnt ennet der Grenze, zwei Stunden entfernt. «Ich wollte allein sein. Brauchte das. Brauchte Zeit. Hockte zu Hause, überlegte, wie ich das organisieren sollte, würde ich demnächst sterben.»
Denn geschehen kann nur, was Esther wirklich will. «Alles soll in Ordnung sein, wenn ich einen Abgang mache. Die Mitgliedschaft bei EXIT ist mein Anker. Ich weiss, ich muss nie qualvoll sterben. Kann gehen, wenn ich das Leben, die Krankheit nicht mehr aushalte.» Die pensionierte HR-Kaderfrau hat einen Vorsorgeauftrag erstellt, sagt, alle Papiere seien geschrieben, die letzten Dinge geregelt. Die Passwörter auf einen Stick geladen. Mit Schwester Barbara und Tochter Jacqueline habe sie alles bis ins Detail besprochen.
Letzter Ruheplatz unter einem Baum?
«In den ersten zwei Nächten nach der Diagnose räumte ich im Kopf meine Wohnung. Machte eigentliche Gedankenspiele. Fragte mich: Wer bekommt was? Fragte mich: Wie soll mein Abgang gestaltet werden. Und genau das machte mir Mühe. Im Gegensatz zu allen organisatorischen Massnahmen fiel mir dieser Punkt der Planung schwer.» Sie schaut mich an, sagt. «Wer redet an der Abdankung?» Fragend blickt sie mich an. «Könntest du das übernehmen?» Ich nicke. Das mach ich gerne.
Esther fährt fort, sagt, sie habe sich gefragt, wo sie denn verstreut werden solle. «Ich umrundete den Pfäffikersee, guckte jede Birke an. Denn eines ist klar. In den See wird nix geschüttet. Sicher nicht. Unter einem Baum könnte ich mir den letzten Ruheplatz noch vorstellen. Vielleicht.»
Den Baum hat sie noch nicht gefunden. Und in einem Urnengrab auf dem Friedhof einer Zürcher Agglomerationsgemeinde möchte sie nicht liegen. Sie lacht esthermässig. Laut, fröhlich: «Ich kann noch gar nicht abtreten, weil ich meinen letzten Platz noch nicht gefunden habe.» Wir lachen. Ich erzähle ihr von den Mietgräbern auf den Friedhöfen der Stadt Zürich. Das interessiert Esther. «Da freue ich mich auf die Recherche. Auf die ausgedehnten Spaziergänge durch die Friedhofparks der Limmatstadt.»
Normales Leben führen – trotz Corona und Krebs
Esther Spiess: «Mein Krebs ist irgendwie eine abstruse Geschichte. Andere wären in eine Depression verfallen, bei mir löste die Krankheit Aktivismus aus. Ich sorgte mich um die Angehörigen, dachte, ich will meine Enkel noch sehen, sie unterstützen. Das ist mir ein zentrales Anliegen. Zu meiner Tochter habe ich eine starke Bindung, wir sind uns ähnlich und doch nicht gleich. Wir sehen uns nicht so oft, aber ich bin ihre wichtigste Ansprechpartnerin.»
Über den Krebs hätten sie nie wahnsinnig gross geredet. Zu Tochter Jacqueline sagte Esther: «‹Ich kämpfe, und ich schaffe das›. Überzeugt war ich, sie hatte bestimmt das Bild vor sich von der starken Mutter. Ich wollte ihr die Angst nehmen. Wollte mit meiner Diagnose das Umfeld nicht belasten. Ich zog alles durch, wie wenn nichts wäre. Ich kochte für Enzo und die Enkel, ging posten. In meinem Leben änderte sich kaum etwas. Wir unternahmen viel, machten kleine Ausflüge. Versuchten das normale Leben zu führen. Und es gelang weitgehend. Ganz wichtig war mir: Enzo sollte nicht unter meiner Krebsdiagnose leiden.» Das war übrigens ein Dreivierteljahr vor Corona.
Sie macht eine Pause, schaut mich an. «Ich sagte zu Enzo, ich gebe dich frei.» Da muss ich lachen. Frage Esther: «Und, hat er dir eine geknallt?» Wir lachen. Hat er natürlich nicht. Wer den fröhlichen Schwaben kennt, weiss, er sagte: «Spinnst du?» Esther lacht. Sagt, sie habe alle schützen wollen, die sie gern habe. «Ich jammerte kaum, liess mich nicht fallen, riss mich so gut wie möglich zusammen.»
Die Beziehung zur Schwester Barbara sei plötzlich viel intensiver geworden, näher. Ebenso die Verbindung mit Enzo, die Verbundenheit mit den Enkeln, der Tochter. Vieles wurde schöner: «Eine Krankheit hat nicht nur Negatives, sie hat ebenso positive Aspekte.» Allerdings gab es Menschen im nahen Umfeld, die nicht mit Esthers Krebserkrankung umgehen konnten. Eine Bekannte wollte wissen, hast du dich schon gefragt, ob du selber schuld bist? Andere sagten, sie solle mal darüber nachdenken, was der Grund sei für ihren Krebs. «So ein Blödsinn!», ruft Esther.
Vorsorgeuntersuchung wichtig
Und sie, was sagt sie, wenn jemand fragt: «Soll ich wirklich einem Arzt, einer Ärztin meinen füdliblutten Allerwertesten zeigen? Soll ich eine Koloskopie machen lassen?» Da muss Esther nicht nachdenken. «Gehen. Sofort», sagt sie. «Diese Vorsorgeuntersuchung ist keine Sache. Weil ich sie nicht machte, plagte mich zeitweise ein schlechtes Gewissen. Ich dachte: Wegen möglicher Schamgefühle oder so bin ich jetzt im Spital.» Sie schüttelt den Kopf. «Es hätte nicht so weit kommen müssen.» Sie schweigt, sagt dann: «Wer an Darmkrebs leidet und sich nicht voruntersuchen liess, der steht am Pranger. Das ist schlimm. Eine Freundin meinte, das sei unverantwortlich. Sie sagte: ‹Du bist selber schuld.›»
Die Enkelin und die beiden Enkel reagierten super auf die Krankheit ihrer Nani. Esther seufzt. Sagt: «Sie verloren ihren Onkel und Götti, den Bruder ihres Vaters. Erlebten also schon einmal, was es heisst, jemanden zu kennen, der an einer schlimmen Krankheit leidet. Der daran gestorben ist.» Esthers «Enkelkinder», 15, 17 und 19 Jahre alt, gehen lieb und rücksichtsvoll mit ihrer Nani um.» Sie lacht. Sagt: «Ich mache mir nicht mehr so viele Sorgen um die drei, sie haben gute Anlagen.»
Kampf gegen den Krebs war bewusster Entscheid
Es ist der 2. April 2020. Esther und ich reden am Telefon. Corona-Zeit. Lockdown. Sie sei im Hirslanden gewesen. «Die nahmen drei Proben und waren überrascht, wie wenig Krebs sie finden konnten. Gut, gell?»
Ich möchte wissen, ob es für Esther immer klar gewesen sei, die Fachleute sollen alles unternehmen, damit sie genesen könne. Ich sage: «Hätte der Doktor gefragt: ‹Frau Spiess, was ist Ihr Ziel?›, hättest du wohl geantwortet: ‹Ich will leben.›» Sie fällt mir fast ins Wort. Sagt: «Ohne Zweifel will ich leben. Ich will überleben. Ich kann noch nicht abkratzen. Schliesslich habe nicht alles getan, was ich noch tun will.» Sie greift zum Glas Wasser, sagt: «Nicht, dass ich etwa Angst hätte vor dem Sterben. Es ist noch zu früh, ich bin nicht bereit.»
Esther Spiess entschied sich vor einem Jahr für den Kampf gegen den Krebs. Was dieser Entscheid alles mit sich bringen würde, war ihr nicht klar. Nebenwirkungen etwa, wie ein Mund voller Aphten, zeitweise Übelkeit und Schmerzen, den Haarausfall, die Glatze, die vielen Entbehrungen und so weiter. Esther seufzt. Sagt: «Nein, das war mir nicht klar. Überhaupt nicht. Und ich redete nicht darüber. Stellte keine Fragen. Mein Vorstellungsvermögen ging nicht so weit. Nie hätte ich gedacht, wie schlimm die Behandlung des Krebses wird. Ich kenne keine Betroffenen, die jammern. Und so dachte ich: Das mach ich.»
Die Glatze war Esthers erster Schreck. Ein Schreck, der sich in Grenzen gehalten habe. «Ich fand es gar nicht mehr so schlimm. Als ich mich im Spiegel sah, bekam ich einen Lachanfall. Die Perückenmacherin bei der Rolph AG sagte: ‹Sie haben einen schönen Kopf›. Echt gut beraten hat sie mich. Aber rasieren wollte ich mich nicht selbst. Und Enzo sollte es ebenso wenig machen.»
Die Schwester begleitete Esther. «Wir lasen zusammen eine Perücke aus. Beim zweiten Mal ging ich alleine. Nahm bewusst ein Taschentuch mit. Damals fielen mir die Haare büschelweise aus. Mein Look glich dem einer Künstlerin. Die Perücke trug ich ohne Probleme. Die Leute gaben mir Komplimente. Ohne Haare zeigte ich mich niemandem. Im Bett trug ich ein Käppchen. Und das blieb oben.» Sie lacht verschmitzt. «Dir zeige ich ein Bild der Glatze.» Dann prustet sie los.
Nebenwirkungen schlimmer als erwartet
Wie war das mit der Zuversicht, der Hoffnung? Gingen sie je verloren? Mich nimmt wunder, ob Esther je mutlos war. «Nein» antwortet sie bestimmt. «Ich hatte keine Angst vor der Zukunft. Eine Krebstherapie nach der anderen liess ich über mich ergehen. Schickte mich rein. Natürlich fragte ich mich, wie lange hältst du das durch? Verzweifelt bin ich nie. Im Hirslanden-Onkozentrum Zürich bin ich gut aufgehoben. Die beiden mich betreuenden Frauen machen einen so guten Job.»
Übel seien die Erstickungsanfälle gewesen. Da hätte sie sich gewünscht, wenigstens etwas Luft zu bekommen. «Schlimm wars einmal vor dem Spital. Ich glaubte zu ersticken. Enzo geriet in Panik. Er ertrug es nicht, mich zu so sehen. Und ich, ich wollte nicht, dass er mir zuschaut.» Eine Zeitlang seien Mund und Hals voller Aphten gewesen. Komplett entzündet. «Ich konnte nichts mehr essen. Kaum etwas trinken. Das war schlimm.» Sie nickt. Schaut mich an. «Alles in allem hat die Zeit ja nur ein Jahr gedauert. Und was die Zukunft bringt, weiss ich nicht.»
Sie sagt, sie habe Verständnis für Krebskranke, die irgendwann keine die Kraft mehr finden würden für eine Weiterbehandlung. Es sei ein Elend, wenn jemand nicht mehr könne. Wenn die Kraft fehle, die Zuversicht. Wenn sich Hoffnungslosigkeit breit macht. Esther plagten keine Schmerzen, wenig Übelkeit. «Ich bin wirklich rundum gut eingebettet.»
Und sie wollte tapfer sein. Mit dem Zug fuhr sie nach Zürich. Mit dem Tram ins Hirslanden. Das funktionierte lange gut. Irgendwann musste sie die Hilfe doch annehmen, die ihr von allen Seiten angeboten wurde.
Esther, das weiss ich, hat während ihrer Krankheitszeit alle ihr auferlegten Aufgaben erledigt. Sie kochte für die Enkel, übernahm Hütedienste, ging Gassi mit dem Labradoodle «Milou». Sie nickt: «Mein Donnerstag ist für uns extrem wichtig. Eine Woche nach der ersten Chemo fühlte ich mich wieder gut. Super, als ich etwas essen konnte. An Pfingsten wars. Ein wunderbares Fischgericht. Ein unsagbarer Genuss.»
Mit Enzo starke Bande geknüpft
Esther liess alle Therapien über sich ergehen. Akzeptierte die Vorschläge des Onkologie-Teams. «Ich vertraute den Ärzten. Die Chemo dauerte ein halbes Jahr, immer drei Tage lang. Dabei war mir Enzo eine grosse Stütze.» «Die Beziehung zu ihm dauert ja noch nicht ewig», sage ich. «Was konnte er dir Gutes tun?» «Enzo war, Enzo ist eine wichtige Figur. Was, wenn ich ganz alleine wäre? Ich hätte grosse Ängste. Und diese Ängste nahm er mir.» Sie hält inne. Sagt: «Er ist eine starke Person, glaubt an meine Gesundheit. Einmal sagte er dem Onkologen: ‹Unser Ziel ist, gesund zu werden›. Er war, er ist, wie ein Fels. Enzo begleitete mich durch die Chemos. Mit der Zeit kannte er alle im Onko-Team. Wir erlebten regelmässig fröhliche Momente.»
Plagten dich eigentlich Verlustängste? «Nein. Super ist, Enzo liess mich nie im Stich. Es sind starke Bande geknüpft zwischen uns. Ich merkte, was es ausmacht. In den schlechten Zeiten ist er für mich da. Etwa, wenn mir kotzübelgrusig war. Wir pflegen unsere verlässliche Beziehung. Was für ein Glück.»
Wir kommen nochmals zurück auf den Darmkrebs. Esther kommunizierte schon früh, wie blöd es gewesen sei, nie eine Darmuntersuchung gemacht zu haben. Wir diskutierten dann über die Gründe. War es falsch verstandene Scham? Unwissen? Nachlässigkeit? Verharmlosung? «Ich fand es nicht nötig. Liess Präventivuntersuchungen, Präventivuntersuchungen sein. Nahm mir keine Zeit. Dachte: Sollen andere zu den Ärzten rennen.» Sie verwirft die Hände. Holt Luft. «Bis zur Pensionierung lebte ich in einem riesigen Stress, rannte nur rum für die Firma. So vieles kam zu kurz. Etwa Wohlergehen und Gesundheit.»
Das Leben endet, die Liebe bleibt
Und dann, kurz nach der Pensionierung, wurde der Krebs diagnostiziert. Wie nahe waren dir in den vergangenen Monaten die Gedanken an den Tod? Hattest du Angst? Esther Spiess: «Ich studierte viel dran rum. Wusste nie, komme ich da raus. Hoffte, nie lange leiden zu müssen. Wollte keine jahrelange Krebsgeschichte erleben. Angst machte mir, die Angehörigen allein zu lassen. Ich darf sie nicht verlassen. Nicht jetzt.» Hast du mit jemandem darüber gesprochen? Esther schüttelt den Kopf. «Nein, mit niemandem. Angst machte mir ebenso die Vorstellung einer langen Leidenszeit. Derzeit ist diese Angst kleiner.»
Ich frage Esther: Was denkst du, wo endet die letzte Reise?
Das Leben endet. Liebe und Erinnerungen bleiben. Ich glaube an die Liebe. Wir sollten schauen, ein gutes Leben zu führen. Für die Mitmenschen da sein. Liebe geben, Liebe bekommen. Solidarität leben. Und wenn mein Körper dereinst verbrannt wird, bleiben Staub und Russ zurück, entsteht Erde. Ich glaube an den Kreislauf von Leben und Sterben. An ein Leben nach dem Tod glaub ich nicht. Verstehen kann ich allerdings gut, wenn jemand in der Religion, im Glauben Halt findet.
Was macht der Gedanke mit dir, heute Nacht friedlich und still einschlafen und nie mehr erwachen?
«So würde mir ein langes Leiden erspart. Aber heute Nacht zu sterben, wäre noch zu früh. Hei.» Und dann lacht sie los. So schön.
Ein Leben mit Stoma, für Esther undenkbar
Tag 37 der Corona-Zeit. Esther Spiess hat die erste Fassung ihrer Geschichte gelesen. Wir telefonieren. Esther schrieb mir vorher, über etwas hätten wir nie gesprochen. Das drohende Stoma. Den künstlichen Darmausgang für den Rest des Lebens.
Esther Spiess schildert mir Folgendes: Nach der Chemo Ende Oktober 2019 habe sie eine weitere grosse Untersuchung über sich ergehen lassen müssen. Sie habe erfahren, der Tumor hätte sich stark zurückgebildet. Er wäre zwar noch da, aber viel, viel kleiner. Das habe der Professor gesagt. Der Krebs würde wieder wachsen, würde Beschwerden machen. Er müsse raus und dann habe er ihr einen Operationstermin Mitte November angeboten.
Esther legt eine Pause ein. Sagt: «Diese Geschichte vergass ich dir bisher zu erzählen.» Wir schweigen am Telefon. Dann redet sie weiter: «Der Chirurg sagte mir, ich müsse mich damit abfinden, während mindestens dreier Monate ein Stoma zu tragen. Diesen Kompromiss konnte ich eingehen. Drei Monate? Ja. Für immer? Nie und nimmer.» Esther lacht. Sagt: «Das unterschrieben wir beide, schüttelten uns die Hände. Und damit willigte ich ein in die heikle Operation.»
Am Donnerstag, 14. November, es sei ein kühler bewölkter Tag gewesen, musste die Krebskranke einrücken ins OnkoZentrum. Zwei Stoma-Beraterinnen besuchten sie im Zimmer. «Ich hatte alle Informationen. Anderntags, am Freitag, war die Operation geplant. Sie sollte vier bis fünf Stunden dauern. Sollte. Esther erwachte nach nur 90 Minuten. «Mir war klar, da ist was schiefgelaufen.» Das Pflegepersonal holte den Professor. Der habe gesagt, ‹ihr Tumor sitzt zu tief›. Würde er ihn rausoperieren, müsste sie lebenslang ein Stoma tragen. Und das wolle sie ja nicht. «Ich dankte ihm mit Tränen in den Augen. Weinte. Schüttelte ihm erneut die Hände. Sagte: Ich bin Ihnen so dankbar. Mit einem lebenslangen Stoma könnte ich nicht leben. Das wäre für mich schlimmer als der Tod.»
Esther hat sich gut informiert. Wir beide wissen, es gibt junge Menschen, die mit einem künstlichen Darmausgang leben. Ein glückliches Leben führen – mit Stoma. Esther seufzt, sagt: «Martin, ich könnte und will es nicht.»
Mit Rückschlägen leben lernen
Wir reden nochmals über unser Telefongespräch am Donnerstag, 2. April. Sie erzählte damals, sie sei im Hirslanden gewesen. «Heute, drei Wochen später, Tag 38 der Corona-Zeit, ein Jahr und 20 Tage nach der ersten Koloskopie, erfuhr ich, ein Adenom sei noch vorhanden zudem fänden sich krebsartige Zellen. Jetzt habe ich wieder etwas Angst bekommen, im Februar erhielt ich besseren Bescheid.»
Bestrahlungen sind nicht mehr möglich, eine weitere Chemo ist angesagt. «Ich freute mich so auf den Sommer», sagt Esther Spiess. «Nun machte mir zuerst Corona einen Strich durch die Rechnung und jetzt droht mir noch eine Chemo.» Sie seufzt hörbar. Sagt: «Ich gehe von einem sanften Rahmen aus. Warte auf den Besprechungstermin.» Dann schweigt sie nochmals. «Weisst du», sagt Esther, «für mich ist der Verlauf bis jetzt ein Wunder.»
Diese Worte wirken. Sie sind so echt, wie Esthers Lachen.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Eddy Risch
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