Lieber Freund
«Mein Gott, Alois, was bin ich geschockt.» So begann mein Brief, den ich dir noch nicht schickte. Mein Entsetzen ist drei Wochen alt. Auslöser war eine Geschichte aus dem BLICK vom Freitag, 8. Mai 2020. Eine Geschichte, die mich erschütterte.
Unter dem Titel «Das Vermächtnis» erzählt der BLICK, was der Zürcher FDP-Nationalrätin Doris Fiala passiert sei, als sie diesen Winter im Spital darum gekämpft habe, ihrem krebskranken Mann ein würdiges Sterben zu ermöglichen. So, wie es die notariell beglaubigte Patientenverfügung vorgeschrieben habe.
Unglaublich. Der Arzt wollte das nicht akzeptieren, heissts im BLICK. Die Politikerin musste sich heftig für die Rechte ihres Mannes eingesetzt haben. Ein unschöner Disput sei die Folge gewesen. Alois, was ist zu tun, damit meine rechtsgültige Patientenverfügung akzeptiert wird? Muss ich vor dem Weg ins Spital aus dem Zug des Lebens springen? Hätte eines meiner Kinder Jus studieren, Rechtsgelehrte werden sollen? Oder, jetzt ernsthaft, muss ich einen scharfen Anwalt als Vertrauensperson einsetzen? Einen, der meinen Wunsch «Ich will keine lebensverlängernden Massnahmen» durchsetzen könnte? Das kann doch nicht sein?
Oder, ganz cool, müssen wir in Zukunft Dienstleistungen beanspruchen von grossen, gut gebauten, durchtrainierten «Schutzengeln», die bei einem Runden-Tisch-Gespräch die Rechte der Palliativ-Fraktion vertreten? Zum Glück kenne ich jemanden, der einen guten Draht pflegt zu den Hells Angels. Alois, mein lieber Freund, das kann doch nicht sein.
Demos für Patientenverfügung nötig?
Einst kämpften wir für Jugendzentren und demonstrierten gegen Atommeiler. Unsere Mütter setzten sich ein, das Stimmrecht zu erhalten. Und wir müssen heute dafür kämpfen, die rechtlich zugesicherte Selbstbestimmung durchsetzen zu können.
«Wir müssen einen anderen Umgang mit dem Sterben initiieren», soll Doris Fiala dem BLICK gesagt haben. Das sind unsere Worte. Wie oft haben wir darüber geredet, geschrieben, debattiert. Jetzt wirds spannend. Unsere Botschaft: «Redet über die Selbstbestimmung zum Lebensende, gedenkt des Todes» hat Verbündete erhalten. Super.
Umärmel. Martin
Lieber Martin
ich war nach deinem Telefon am 8. Mai erstaunt, erzürnt. Schockiert nicht, denn Schock kann Starre auslösen. Das wäre ungünstig gewesen in meiner damaligen Situation. Ich steckte mittendrin in einem relativ steilen Anstieg auf den Napf. Unmöglich, da in Schockstarre zu geraten. Das hätte geheissen: Keine Aussicht vom Napf geniessen. Ziel nicht erreichen. Ha! Wir wollen unser Ziel erreichen. Das Ziel, möglichst viele Personen sollen eine Patientenverfügung verfassen. Sollen formulieren, was ihr Ziel ist. Sollen niederschreiben, wie sie sich das Sterben vorstellen, was sie sich für die letzte Lebensphase wünschen.
Sicher haben sich in der jetzigen Covid-19-Zeit einige Menschen Gedanken zur Art ihres Sterbens gemacht. Das Recht, eine Patientenverfügung durchzusetzen, existiert im ZGB seit über sieben Jahren. Da steht in Art. 370 ff vom 01.01.2013: «Eine urteilsfähige Person kann in einer PV eine natürliche Person bezeichnen, die im Falle ihrer Urteilsunfähigkeit mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt die medizinischen Massnahmen besprechen und in ihrem Namen entscheiden soll … Ist der Patient oder die Patientin urteilsunfähig und ist nicht bekannt, ob eine PV vorliegt, so klärt die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt dies anhand der Versichertenkarte ab … Der Arzt entspricht der PV, ausser wenn sie gegen gesetzliche Vorschriften verstösst.»
Wir brauchen keine Palliativpartei
Also von Gesetzes wegen kein Problem. Du brauchst weder einen scharfen Anwalt noch musst du eine Palliativ-Partei gründen. Wir haben alles. Ich bin mir bewusst, es praktizieren noch einige Ärzte, die nur das Gebot kennen «Leben erhalten». Sterben und Tod liegen ausserhalb ihres Kompetenzbereiches. Ich wurde während meines Studiums ebenso wenig informiert betreffend des Verhaltens bei Sterben und Tod. Das ist heute anders. Die jungen Ärztinnen, Ärzte werden diesbezüglich ausgebildet. Viele junge Mediziner zeigen eine bewunderungswürdige Einstellung zur ethisch korrekten Betreuung Sterbender.
Zum Schluss noch dies: Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Götter in Weiss haben ausgedient. Sie wurden zu «Menschen, die mit den Todgeweihten sprechen und sie anhören».
Also mutig voran, lieber Freund. Das Ziel liegt in greifbarer Nähe, wie damals am Freitag, 8. Mai 2020 der Napf mit seiner tollen Aussicht und seinem leckeren Kafi-Napf.
Herzlich, Alois
Haben Sie noch keine Patientenverfügung erstellt? DeinAdieu bietet eine Fülle von Informationen, Links und Downloads zum Thema.
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