Gestorben wird überall. Auch im Zürcher Stadtspital Triemli, wo Silvia Richner als Leitende Ärztin und Abteilungsleiterin Palliative Care tätig ist. Wobei Abteilungsleiterin für einen Laien etwas missverständlich tönt. Wer zu Silvia Richner möchte, meldet sich an und wird dann von der «Frau Doktor» empfangen. Das kann irgendwo im Spital sein. Denn im Triemlispital ist die Palliativ-Care-Abteilung überall.
«Wir haben keine eigenen Betten, wir arbeiten konsiliarisch», sagt Silvia Richner. «Wir werden gerufen und betreuen schwer kranke und sterbende Menschen auf allen Stationen des Spitals. Das kann auf der Onkologie sein, auf der Gynäkologie, der Inneren Medizin und so weiter.» Silvia Richners Team besteht derzeit aus zwei Ärztinnen und zwei Pflegeexpertinnen. «Wir arbeiten als mobile Teams.»
Fürs Sterben ist wenig Technik nötig
Das funktioniert bestens: «Sterben braucht wenig Technik», sagt die leitende Ärztin. «Wer Sterbende betreut, muss sich vor allem Zeit nehmen, muss für sie da sein. Wir hören ihnen zu und versuchen gemeinsam, Entscheidungen in ihrem Sinn zu fällen. Wichtig ist eine gute Linderung der Beschwerden, insbesondere mit Medikamenten.»
Die Herausforderung an ihre konsiliarische Tätigkeit erklärt Silvia Richner folgendermassen: «Wir stehen in engem Kontakt mit den Ärzte- und Pflegeteams auf den verschiedenen Stationen. Unsere Zusammenarbeit gestalten wir interdisziplinär und interprofessionell. Alle Beteiligten bringen ihr Know-how und ihre Erfahrung mit ein. Wir entscheiden gemeinsam und tragen den Entscheid dann auch gemeinsam. Die Zusammenarbeit ist meist sehr gut, viele Kollegen, viele Pflegende sind froh, dass wir ihnen etwas Schwieriges abnehmen. Manchmal gibt es sehr angeregte Diskussionen, selten werden wir belächelt.»
Traurige Gefühle zulassen
Kann jemand nicht geheilt werden, entsteht bei den Betreuenden manchmal das Gefühl des Versagens. «Das kann zu medizinischem Aktivismus führen», sagt Silvia Richner. «Und dieser Aktivismus ist möglicherweise vom Patienten gar nicht so gewünscht. Dann ist es unser Ziel, die Menschlichkeit sowie die Begleitung ins Zentrum zu setzen. Wir erklären den Kollegen, Kolleginnen, dass sie gerade damit sehr viel beitragen. Nur ist es für die einen schwierig, sich auf die traurigen Gefühle einzulassen.»
Silvia Richner arbeitet schon zehn Jahre als Palliativmedizinerin am Triemlispital, daher ist die Betreuung und Begleitung eines Menschen bis zu seinem Lebensende im Kollegenkreis kaum mehr ein Thema. Gibts eine Diskussion um Sinn oder Unsinn lebensrettender Massnahmen, versucht Silvia Richner sachlich zu argumentieren, den Kollegen nicht auf den Schlips zu treten. «Meist bin ich eher diplomatisch», sagt sie. «Konfrontation ist nicht so mein Ding.»
Manchmal tut Aufklärung not. Dann erklären die Palliativ Care-Leute, dass Kranke in der Endphase des Lebens weniger essen und trinken wollen. «Sie atmen auch anders, das ist normal. Man muss es einfach wissen. Das kann für die Betreuenden und die Angehörigen sehr hilfreich sein», sagt die leitende Ärztin.
An der Uni lernen, Leben zu erhalten
Silvia Richner kann sich gut in ihre Kollegen, Kolleginnen einfühlen, die primär ein Leben retten und erhalten wollen. Sie selbst absolvierte ja ebenfalls ein Medizinstudium und die Ausbildung zur Internistin, wo sie vorwiegend ausgebildet wurde, um bei erkrankten Personen therapeutische, also heilende Massnahmen anzuwenden. Sie war also bestrebt, das Leben zu verlängern.
Der Autor will wissen, wie sie es schaffte, sich umzupolen. Bei Palliative Care geht es ja nicht darum, noch möglichst viele letzte Tage zu erleben, sondern darum, diese letzten Tage möglichst schmerz- und angstfrei zu verbringen. Silvia Richner: «Ich hatte schon immer Interesse für die Menschen, war gwundrig auf ihre Geschichten. Der Stellenwert einer Begleitung, also das ‹to care›, war mir immer klar. Auch die Begleitung in der letzten Phase des Lebens. Sterben ist nicht nur schlimm. Das erlebte ich nun öfters in meiner schon langjährigen Tätigkeit.» Weiter erklärt sie, für sterbende Menschen sei es wichtig, «dass auch Ärzte einfach ‹da› sind».
Zu Hause kann das Sterben mehr Angst machen
Schwerkranke Patienten, Patientinnen wünschen sich oft, zu Hause sterben zu können. «In so einem Fall versuchen wir, es möglich zu machen», sagt Silvia Richner. «Wenn nötig mit grossem Aufwand.» Neben engagierten Angehörigen und Freunden brauchts zusätzlich ein grosses Netzwerk. «Die Spitex ist involviert mit der Fachstelle Palliative Care, dem Hausarzt und eventuell einem Palliativmediziner. Eine Apotheke muss informiert sein und möglicherweise die Lungenliga oder eine andere Organisation. Im Spital müssen wir den Austritt gut und detailliert vorbereiten. Dazu gehört ebenso die Notfallplanung. Eine umfassende Kommunikation ist gefragt. Der Patient, die Patientin braucht alle Arten medizinischer Rezepte.»
Es kommt durchaus vor, dass Menschen in ihrer letzten Lebensphase froh sind, im Spital zu sein. Denn die Ängste und die Belastungen sind für die Betroffen in den eigenen vier Wänden gross. Diesem Wunsch steht ein gewisser Druck gegenüber. Ein Druck seitens des Staates, seitens der Krankenkassen. Kranke sollten möglichst kurz im Akutspital verweilen. Eine Betreuung und Begleitung bis zum Lebensende ist eigentlich so nicht vorgesehen. DeinAdieu weiss von Palliativmediziner Roland Kunz, Chefarzt Universitäre Klinik für Akutgeriatrie im Zürcher Stadtspital Waid, dass Krankenkassen eine Chemotherapie, also eine aktive Behandlung, problemlos bezahlen, aber die betreuende Behandlung der Palliative Care oft nur beschränkt übernehmen.
Wie erlebt das Silvia Richner? «Eines unserer Probleme ist tatsächlich, wenn der Aufenthalt im Nachhinein nicht voll vergütet werden kann, beziehungsweise defizitär ist. Hier liegt das grösste Dilemma in meiner Arbeit. Wie bringe ich es fertig, eine ethisch-betriebswirtschaftlich-gesellschaftliche Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten?»
«Du bist wichtig, weil du bist. Du bist bis zum letzten Augenblick deines Lebens wichtig. Und wir werden alles tun, damit du nicht nur in Frieden sterben, sondern leben kannst bis zuletzt.»
Cicely Saunders. Sie gilt als Begründerin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin
Wer in einem Pflege- oder Altersheim «zu Hause» ist, kann die «letzte Reise» in der Regel getrost antreten – dank einem grossen, palliativ funktionierenden Netzwerk. Bei Bedarf beraten und schulen Silvia Richner und ihre Kolleginnen die Betreuenden, Begleitenden in einem der Stadtzürcher Heime.
«Wer möchte, dem schenken wir reinen Wein ein»
Der Autor will wissen, wie Silvia Richner beim Erstgespräch mit einem Patienten vorgeht? Sagt sie dem Patienten, der Patientin immer die volle Wahrheit oder gibt es Situationen, in denen es besser ist, gewisse Sachen zu verschweigen? Etwa alle Metastasen, alle Komplikationen oder gar den Zeitpunkt des Todes? «Bei einem Erstgespräch ist eine Pflegende dabei», sagt die leitende Ärztin. «Wie es um den Patienten, die Patientin steht, erfahren wir auf der Station. Im Erstgespräch fragen wir meist mehr, als wir direkt reden. Will der Patient nichts wissen, ist das sein Recht. Problematischer wird es, wenn Angehörige nicht wollen, dass wir mit dem Betroffenen reden, ihm reinen Wein einschenken. Und das, obwohl der Patient informiert werden möchte.»
Sind solche Gespräche belastend? Silvia Richner schüttelt den Kopf. «Meist sind sie erleichternd. Es ist viel Aufklärung möglich. Und für Angehörige ist es Trauerprävention. Sie können sich nach unserem Gespräch auf das Kommende vorbereiten.»
Sterben ist ein Dahinschwinden, Hindurchgehen
Und was geschieht mit den Sterbenden? Fürchten sie den Tod? «Teils, teils», sagt Silvia Richner. Und was sagt sie, wenn jemand wissen will, was denn genau passiere beim Sterben? «Ich weiss es ja auch nicht», sagt die Ärztin. «Ich weiss weder, was nachher kommt, noch was denn genau geschieht. Ich sage jeweils, das Sterben sei wohl ein Dahinschwinden, eine Phase, wo sich beide Welten begegnen, ein Hindurchgehen.»
Was rät Silvia Richner einer 91-jährigen «gesunden» Frau, wenn sie sagt «Frau Doktor, ich möchte sterben»? Die Ärztin kann den Wunsch nachempfinden. Sie würde versuchen, herausfinden, was die Frau am meisten plagt. «Sicher können wir ihr garantieren, dass wir medizinisch nichts lebensverlängerndes unternehmen. Dann würde ich sie trösten, ihr sagen, dass der Zeitpunkt kommen wird und wir alles unternehmen werden, ihr die Zeit bis dahin zu erleichtern.»
Will jemand sterbefastend sein Lebensende bestimmen, respektiert Silvia Richner das. «Wir behandeln alle Patienten gleich», sagt sei. Verlangt ein Schwerkranker nach einer Beihilfe zum Suizid, etwa eine Freitodbegleitung durch Exit, ist das in einem der Stadtzürcher Spitäler nicht möglich. «Vorläufig geht das nicht», sagt Silvia Richner. «Im CHUV Lausanne ist es in speziellen Fällen möglich, mit der Hilfe einer Freitodorganisation selbstbestimmt zu sterben. Wir im Triemlispital sind nach wie vor sehr engagiert, eine möglichst gute Palliation zu machen.»
Text: Martin Schuppli/Fotos: Paolo Foschini
8063 Zürich